Keitumer Predigten
Traugott Giesen 19.11.2000&
Volkstrauertag
Selig sind, die da Leid tragen. Denn
sie sollen getröstet werden (Matthäus 5, 4)
Die Losung dieser Generation heisst: �Don�t
worry, be happy � sei nicht traurig, sei ..., ja: happy, kaum zu übersetzen:
fit for fun eben � auch kaum zu übersetzen: gut für Spass, Happysein,
gut drauf sein. Fröhlich setzte Tiefgang voraus, Freude ist zu glanzvoll
� happy eben, Spasskultur, unterhaltsam, leichtes Drüberweg. Nur keine
Probleme. Dagegen Jesu Wort: Selig, die da Leid tragen. Denn sie sollen
getröstet werden.
Trauer ist etwas sehr Lebendiges, Starkes,
ist eine Seelenarbeit, die annimmt was geschehen ist. Und Zukunft beschafft.
Annehmen was geschehen ist � uns, als
Teil eines Volkes, etwa die Pest des Hitlerreiches, die nationale Überheblichkeit,
die Mordlust, mit der Deutsche Europa ausrotteten und unterwerfen wollte.
Nehmen wir die NS-Zeit an als Geschehen, das zu Deutschland gehört.
Gestehen wir uns ein, dass wir oder unsere Eltern oder Grosseltern mitgemacht
haben eine Besessenheit, die Hass und Verachtung betrieb; mitgemacht oder
zu feige gewesen gegenanzugehen.
Dieses Leid tragen, anerkennen, dass wir
oder unsere Eltern, Grosseltern Kain waren, der den Bruder, den Mitmenschen
erschlug � Und als er gefragt wurde im Gewissen: Wo ist dein Bruder Abel?
� da wandten wir uns ab: Was soll ich meines Bruders Hüter sein (1.
Mose 4,9)? Das Leid tragen, heisst anerkennen: Das Böse ist in unserem
Namen getan, und sind wir auch nicht mehr mitschuldig, so haften wir doch,
für das, was daraus wird und leisten auch ein Stück Wiedergutmachung:
Dass die neuen Bundesländer wiedererstehen, dass die osteuropäischen
Länder in die EU kommen, dass die noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter
für die jahrelange Schinderei pro Person die Zwanzigtausend DM bekommen
� und was drückt sich ein Teil der Deutschen Wirtschaft, Leid zu tragen.
� Und wir wollen das Gedenken an Millionen Menschen, die einer von Hitler
diktierten Leitkultur nicht entsprachen, bewahren. Wollen bewahren Namen,
Antlitze, Schicksale, Leidensgeschichten. Darum auch das Holokaust-Denkmal
in Berlin. Es muss sein, damit wir Leid tragen, das Leid benennen, das
für immer auch, auch mit Deutschland verbunden ist. � Denn so sollen
wir getröstet werden. Dass wieder Menschen jüdischen Glaubens
und jüdischer Herkunft in Deutschland leben, ist gelebte Vergebung.
Wir werden getröstet: Die Kinder der von unserer Elterngeneration
Ermordeten, sagen uns, den Kindern, dass wir gelernt haben und dass man
mit uns leben kann.
Und darum sind die Menschen, die Asylsuchende
jagen und morden, ein unmittelbarer Angriff auf uns alle. Und wir müssen
dieses Leid, diesen deutschen Jammer tragen, also nicht wegsehen und kleinreden,
sondern wo Nazigesinnung sich zeigt, müssen wir dagegen halten. So
werden wir getröstet. Es werden welche aussteigen, weil du, ich nicht
abliessen, ihnen bessere Freundschaft anzubieten als ihre Gewaltkader.
Leid tragen, auch um die Verhungernden
und Entrechteten, die Aidsverseuchten und die von Kriegen Verstümmelten,
Leid um Nahost und Tschetschenien. Leid tragen auch, indem wir mal aushalten
die Ohnmacht, sie merken, und darin mich bemerken als Nutzniesser und Geniesser
einer ungerechten Weltordnung. Leid tragen heisst: ich, du suchen ihre
Art Erbarmen und Mittragen, um andere zu entlasten, die schon als Kinder
erdrückt werden vom Ziegelschleppen.
Getröstet werden, aber wie? Das Mittragen
tröstet, das Nichtwissenwollen und Wegwischen nicht, das ist ein Grundstoff
für die bösen Träume.
Leid tragen auch für unsere Grossväter,
Väter, Geschwister, die im Krieg und auf der Flucht umgekommen sind.
Ist schon lange her � sagt das schlechte Gedächtnis, und doch trägt
die Liebe Leid um jeden, den sie geliebt hat und der durch Gewalt davonmusste.
Leid wird auch getragen durch das Nennen von Namen, � jetzt in Westerland
ist ein Gedenkbuch gerade erarbeitet. Ich las gerade von einem Französischen
Pastor in einem Gefangenenlager, dass er den Toten einen Löffel mit
eingeritztem Namen mit ins Grab tat, zur späteren Erkennung � hier
hat einer stellvertretend an die Nachwelt geglaubt, dass sie noch Aufhebens
mache um den Einzelnen, seinen Namen und das dahinter gelebte Leben. Und
darin steckt der Trost: Wenn du gedenkst, wenn du einen wachrufst dir heute,
beim Weg zum Ehrenmal, oder über den Friedhof, dann wirst du besser
glauben können, auch du wirst Spuren hinterlassen, auch du wirst mal
fehlen.
Leid tragen auch um die Toten von Kaprun.
Sie wollten Spass haben, Freude im gleissenden
Schnee, hochgemut ist die Stimmung, das Glück zum Greifen nahe, noch
ein paar Minuten durch den Tunnel, dann steht man auf den Brettern und
fühlt sich ganz gross. Mit einem dicken Polster Lebensfreude wollten
sie abends wieder nach Hause und fuhren in den Tod.
Die letzten Momente verzweifelt, Fremde
halten einander, sie atmen den Tod, irdisch sind sie nicht mehr fassbar.
Wohin sind sie weggegangen? Worin ist ihr Sein aufgehoben? Wie bleiben
sie Teil eines Ganzen, behalten Anteil an Zukunft? So abgerissen ihr Lebensfaden
� wer schafft ihnen Vollendung? Leid tragen, heisst ihren Tod beweinen,
und Zukunft für sie verlangen. � Wenn Gott ist, und alle Energie seine
ist, auch die tödliche, dann sind auch die uns Toten seine, und wer
sein, ist verwandelt, von einer Hand Gottes in die andere gefüllt.
Das macht, dass ganz am Rand der Katastrophe Heilendes aufleuchtet, jetzt
nur klein wie ein Teelicht.
Trauer ist etwas sehr Lebendiges, Starkes,
ist ein Leid tragen, eine Seelenarbeit, die Zukunft beschafft dem, der
annimmt, was geschehen ist. Der wird dadurch verwandelt.
Als Witwe, Witwer, als Waise, als Mitmensch,
von dessen Seite ein geliebter Mensch geschnitten wurde, wie ist man verwandelt
worden?
Menschen finden sich, werden einander
anvertraut, ihre Iche verweben sich, sie teilen Lebensumstände, Wohnraum,
Aufgaben. Sie führen einen Kalender, wohl mit zwei Abteilungen, aber
auch das je Eigene lebt unter einem Dach. Sie werden ein Leib, ein System,
kommunizierende Röhren, wollen in Freud und Leid nicht verlassen.
Sie teilten vieles, wenn auch nicht ihre Träume.
Mit Trennung zerbricht der Leib, der hat
dann seine Zeit gehabt. Die Iche rücken auseinander, müssen sich
zurücknehmen, weil das Gegenüber, mit dem man ein Ganzes bildete,
ausgerückt, weggezogen, gestorben, ist � jedenfalls nicht mehr die
andere Hälfte bildet.
Wer war ich miteinander? Leid tragen heisst,
erkennen jetzt, wo nichts mehr ist wie früher, das Frühere. Es
reicht ja gerade noch bis vor meine Füsse. Was er in der Hand hatte,
bleibt sprechend, seine Essenswünsche, seine Eigenheiten, mein auf
ihn Sich-einstellen funktioniert noch lange, auch wenn es ins Leere läuft,
einkaufen für Zwei, decken für zwei.
Wer bin ich, ohne einander? Andere sagen,
man koche nicht gern für sich allein. Lange noch ist er mir der Dialogpartner,
der Mitdenker, Kritisierer meines Fahrstils, redet mir weiter rein als
das schlechte Gewissen beim Geldausgeben oder bei Tischmanieren. Und ich
bleibe noch lange mit ihm beschäftigt: wie er die Welt sah, und wie
er schwach wurde, und wie ich hoffentlich ihm Linderung verschaffen konnte.
� Leid tragen, in dem Sinne, dass er, sie mir wichtig war und weiter ist.
� Auch wenn er stirbt, bin ich weiter der Mensch, der mit diesem Menschen
ich selbst wurde � eine lange Strecke.
Mit dem andern stirbt mein Für-ihn-dasein,
mein Für-ihn-sorgen-dürfen, und das Von-ihm-umsorgt- und Gebrauchtsein.
Es stirbt das Von-ihm-erwartet-werden, was ein starker Sog war heimzukehren.
Leid tragen, trauern � das ist das Alleingelassensein spüren.
Auch die vielen anderen Alleinlebenden
fallen jetzt auf, und wie man sich jetzt oft am Katzentisch der Paarwelt
(B. Strauss) fühlt.
Und das Getröstet-werden?
Irgendwann das Staunen, länger nicht
an ihn gedacht zu haben � irgendwann eigenes Fernsehen, ins Kino ohne Fragen
ob er, sie den Film mag, Urlaubsplanung ohne Absprache, das merken: Du
bist freigegeben für weitere Entwicklung. Das auch wissen: Bis dass
der Tod uns scheidet. � Und wenn es gelang, und es war eine gute Ehe, das
tröstet doch, irgendwann: Wir waren uns gut, so gut wir konnten, mit
Wunden und Verbänden, wir haben uns gefördert � waren uns anvertraut
und zugemutet. � Dank für Gelingen. Dank für das Schöne
dabei. Was für Paare gilt, gilt für andere Lieben abgewandelt
auch, klar.
Und jetzt noch Zeit, wieder noch ein anderer
Mensch zu werden.
Zumal auch der Gestorbene sich weiterentwickelt
� Gott macht aus uns was, das ist sein Metier, und das Sterben ist da nur
Umsteigen. Jedenfalls gehört uns der Tote nicht, auch nicht seine
Beerdigung � was da an Unterverschlusshalten bei Beisetzungen in aller
Stille passiert, ist nur Jammer. Die Toten lassen uns in Ruhe, sie sind
anderweitig beschäftigt; wir sollten sie auch in Ruhe lassen � sehen
wir uns freigegeben, mit all der Mühe, die dazu gehört. Getröstet
mit neuem Aufbruch. Aber du bist noch mehr, wirst weiter, bleibst nicht
stehen.
Ähnlich wie der reale Tod kann das
Abbrechen einer Beziehung sein, ohne dass der Partner stirbt. Weggehen,
Scheidung legt auch Last auf, kann Verzweiflung auslösen, unser Selbsterleben
erschüttern. Wir müssen nicht nur einen geliebten Menschen in
den Tod hinein, sondern auch ins Leben hinein freigeben, freigeben etwa
für einen anderen Menschen; ebenso müssen wir Aspekte von uns
sterben lassen, wenn ihre Zeit um ist, müssen auf Liebgewordenes in
unserm leben verzichten, auch um neue Bindung einzugehen � so Verena Kast.
Der Gegangene bleibt ein Teil unserer Seele, von ihm gefärbt, gebildet,
von ihm geprägt bleibt mein Ich. Ich bleibe der auch von ihm Geliebte,
Erzogene, Beschädigte.
Nichts gegen Spass und Lachen, aber Leid
gehört zum Leben. Und Leidtragen hat grosse Verheissung. Wut, Scham,
Schuld, Weinen, dass man nachlässig und ungeduldig war, Vergebung
brauchen, Vergebung glauben, selbst verzeihen und Dank für die glücklichen
Tage und Nächte und Freiheitsrausch, Leidenschaft, neue Freundschaft,
die Trauer um Verlorenes und der Aufbruch zu neuem Lieben sind grosse Gefühle
� ein Jammer, wenn wir uns Trauer und Liebe wegdrückten. � Wie soll
so der Kältesee in meinem Herzen zum Abfliessen kommen? Trägst
du aber Leid, hast du Leid getragen deine Zeit, dann bist du getröstet.
Gott hat dir deine Klage verwandelt in einen Reigen. Er hat dir das Trauerzeug
ausgezogen und dich mit Freuden gegürtet.
Sich neu finden, neu verweben � besser
wissend um alles Begrenzte, auch ängstlicher, neuen Schmerz mit vorzubereiten,
wenn man neu liebt. Und doch du getröstet, freigesprochen, dem Leben
zugekehrt, das noch viel mit dir vorhat. Amen.