Traugott Giesen Kolumne 13.09.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Vieles ist aus
Ungeheuerlich, wie viel zerstörerische
Energie losgelassen ist. So viel Gräuel ist bewusst herbeigeführt,
damit das normale Leben erstarre. Die Zehntausend, die mit drei, vier gezielten
Schlägen ausgelöscht wurden, waren alle einzelne Menschen mit genau
so viel Lust zu leben wie wir, die wir fassungslos die Bilder des Grauens
anstarren, wieder und wieder. Und unsere Kinder oder Enkel oder uns selbst,
die wir jetzt das lesen, hätte es ebenso treffen können, - die
wir auch mal fliegen oder im Büro sitzen oder flanieren oder einfach
unsere Arbeit tun. Sie wurden zu Geiseln genommen, zu Rammböcken
verdinglicht, wurden zu Pulver und Asche zermalmt, willkürlich, ohne
irgendeine persönliche Beteiligung am Unrecht in der Welt.
Das ist ein Anschlag auf das schlichte Leben
von Millionen Menschen. Das humane Zusammenwirken von Handel und Verkehr
ist schwer beschädigt, die menschliche Gesellschaft ist in Angst und
Schrecken, Bindungen sind zerrissen, Hoffnungen zerstört. Vieles ist
aus. Weltuntergangsahnungen fallen über uns ein. Das Böse in der
Welt hat ein neues, entsetzliches Bild - die Türme des Welthandels werden
zum Einsturz gebracht von todessüchtigen Gerichtsvollziehern.
Unsäglich ist der Schmerz um die Toten und Verletzten. Kann sein, dass
die ohnmächtige Wut in den von Israel besetzten Gebieten Palästinas
oder Tschetscheniens sich aufbäumt zu diesem Verbrechen. Die Menschheit
wird noch mal mehr sich mühen müssen um eine bessere Gerechtigkeit.
Dass jeder fünfte Mensch am Verhungern ist, und wir Übrigen mehr
wegwerfen als sie brauchten, ist mit der Zündstoff dieser
Menschheitskatastrophe. Wir Privilegierten der Menschheit werden auf Vorteile
und Vorrechte verzichten lernen zugunsten von Frieden, der unteilbar ist
oder nicht ist.
Wo ist da Gott? fragen viele. Christus sagt:
"Was ihr getan habt meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt
ihr mir getan." Was wir einander und der Schöpfung insgesamt antun an
Freude und Leid, das fühlt das Herz der Welt mit. Darum flucht und segnet
nicht ein Zeus über den Wolken, sondern wir sind von allen Seiten umgeben
und eingehüllt in ein gutes Ganzes. Gott trägt die Gegensätze
der Welt in sich aus, er geht schwanger mit seiner Welt bis alles heil ist.
Dann erst werden abgewischt sein die Tränen von unseren Augen und kein
Leid und keine Trennung wird mehr sein, sondern Friede.
Jetzt ist noch Werdezeit, noch uns Menschen
anvertraute Frist, das Zusammenleben zu gestalten. Noch ist es unsere Sache,
Gerechtigkeit zu bauen. Luther sagte einmal: "Was ihr nicht um Christus willen
tut, das fordert euch die Zeit mit Wucherzinsen ab." Mit dem 11. September
2001 könnte eine neue Zeitrechnung beginnen, die Zeit des Teilens und
Versöhnens. Uns bleibt doch nichts als zu lieben auf irdische und
unvollkommene Weise. Und dabei im Gespräch sein mit dem Herz der Welt.
Beten wir zu ihm, auch wenn wir keine Worte finden. Wir brauchen diese letzte
Adresse für Dank und Klage um Mensch zu sein: Gott weiß. Daraus
ziehe, wer kann, Trost und Kraft, mehr Liebe in die Welt zu setzen. Jeder
tue, was ihm vor der Hand ist, tue Seins. Und liebe und weine.