Traugott Giesen Kolumne 02.03.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Vom Enden der Täuschung
Wir brauchen mehr Vertrauen und mehr Wissen,
dass auch alles anders kommen kann. Beides brauchen wir: Zutrauen und Misstrauen,
Sich-verlassen-können und Achtsamkeit.
Gut: ein tiefes Lieben zweifelt nicht; "Die
Liebe höret nimmer auf" ist zwar vom Überirdischen gesagt, aber
ein, zwei Menschen muß man haben, an die ich keinen Zweifel ranlasse.
Ich weiß mich mit meinem Lieben auf der richtigen Seite; fast egal,
was der andere tut. Mein Vertrauen macht den Geliebten schön. Er kann
sich irren, aber mich nicht enttäuschen. Ich liebe ihn auch mit seinem
Schatten, ich halte ihm mein Vertrauen zugut, was er auch tut. "Die Liebe
deckt zu", sagt die Bibel.
Aber Alltagsbeziehungen sind ein anderes Ding.
Da muß das Wort bare Münze sein. Da ist Verlass aufeinander, oder
es gibt kein zweites Geschäft. Da wird schnell bestraft; neigt sich
die Bonität, fordert die Bank mehr Zinsen. So einfach, so klar ist das.
Und wenn ein Chef sein Wort nicht hält? Wollte er nicht deine
Beförderung vorschlagen und hat mit diesem Versprechen von dir im letzten
halben Jahr viel unbezahlte Arbeit geschenkt genommen? Und wenn das gebrauchte
Auto doch nicht so top ist, wie dein Freund sagte? Und dein Hauswirt die
größere Wohnung doch anderen weitergab? Und die Clique wollte
auf Fahrt, aber zuletzt hatten mehrere was anderes vor, nur du hast dir alles
freigeschaufelt, und jetzt bist du gekniffen? Und du hast ihm dein Geheimnis
verraten, aber er hielt sich bedeckt, ist weiter der Rechtschaffene? Hätte
man nicht alles wissen müssen? "Wer sich im anderen irrt, hat das
größere Unrecht", sagt Christa Wolf. Gemeint ist wohl, dass wir
Raum uns lassen sollen für eine Spanne Irrtum und Rausreden. Wir haben
alle nicht die Kraft, so gut zu sein, wie wir's gern wären. Auch sind
die Umstände schnell anders und die Karten neu gemischt. Behafte andere
nicht zu sehr auf ihren Versprechungen, sie galten dir von damals, jetzt
bist du ein anderer und der dir was versprach, ist auch gereift oder geschrumpft
oder neuerdings anders gepolt. Man steigt niemals in denselben Fluß.
"Hoffe das Beste und fürchte das Schlimmste",
ist wohl das Wissen der Menschenkenner. Es ist klug, Vertrauen anzubieten,
fast ins Blaue - es verpflichtet enorm, die Auto- oder Hausschlüssel
der auf Reisen Gehenden zu bekommen. Hütet man das Fremde nicht genauer
als das Eigene? Es ist geschickt, gute Ideen an den Tag zu legen, bevor man
Garantien hat. Lieber vertrauen und sich eines schlechteren belehren lassen
als ständig auf der Hut zu sein, und darum auch selbst gar nicht
vertrauenswürdig zu erscheinen, was wiederum dem andern die Stachelhaare
des Argwohns sprießen lässt.
Wie oft bist du denn schon ernstlich
enttäuscht worden? Swift sagt, er sei für eine Million
Enttäuschungen geboren. Wie viel Versprechen wurden dir gebrochen? Und
wie viel von dir? Sei barmherzig mit denen, die viel versprechen, - sprich
sie frei, zeig ihnen dein lächelndes Gesicht und mach Deins.