Traugott Giesen Kolumne 05.10.2002
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Dank - das Gedächtnis des
Herzens
Ich mag Kirche, ich habe dafür eine Palette
von Gründen. Liebevoll nimmt sie den neuen Erdenbürger in die
Menschheitsfamilie auf, segnet ein für den mühsamen Weg ins
Erwachsenwerden, hilft Liebenden, sich von Gott anvertrauen zu lassen und
sagt für den Toten: "Komm gut heim." Außerdem hütet sie die
Grundlagen der Menschlichkeit: das Wissen, wir sind nicht Gott, sind nicht
Unsinn, sondern "Erde voll Sehnsucht, sind Irdisches mit viel Himmel im Kopf".
Kirche sagt, was ist, wenn ich den Boden unter den Füßen verliere.
Kirche ist für Krisen da, gibt mein Leid und meine Schuld in gute
Hände, betet auch für die, die gerade anderweitig beschäftigt
sind, das Vaterunser mit. Und Kirche hat die Feste des Lebens, die Feste
des Jahres - und eins der schönsten ist Erntedank.
Der Altar der Kirche nebenan wird auch für
dich mitgeschmückt. Da lodern die feurigen Herbstblumen, da prangen
Kürbisse und Kohl, ein Sack Kartoffeln steht still. Und Äpfel,
Möhren, Birnen liegen kunstvoll ausgebreitet. Oben auf dem Altar liegen
Brot und Wein - Brot steht für Kalorien, Wein für die Freude,
Gemeinschaft, Liebe. In Brot und Wein ist Gottes "Für uns da sein" so
handfest verstofflicht.
Und am Altar liegt auch deine Liste der
Dankbarkeiten, könnte sein, müsste sein, beam sie hin, in Gedanken,
oder schreib deinen Dankbrief und geh zur Kirche. Am Eingang steht eine
Kirchenälteste oder ein Kirchwart, gib ihnen die Liste, mit der Bitte,
sie mit an den Altar zu legen.
Was würdest du notieren? Was würde
das Gedächtnis deines Herzens gern zum Himmel heben, oder zu wem auch
immer, jedenfalls weist du von dir weg: Du dankst und sagst damit: Wieder
habe ich so viel empfangen, wieder glückte viel, auch mein Können
und Wollen ist Geschenk: Meine hinreichende Gesundheit und meine meist heitere
Seele; meine Lust, doch wieder einzusteigen in den Tag und wieder
Nützliches zu machen. Ja Dank Dir, oft mir verborgener lieber Gott,
oder wie Du auch heißt, Du Herz des Lebens, Du Hirn des Seins, Dank
für Zugehören und Lieben, Dank für Gemochtwerden, Dank für
gern Ichsein, meist jedenfalls, und dass ich nicht dauernd mit mir rumschleppen
muss, sondern einigermaßen klarkomme. Dank für einigermaßen
wache Vorsicht und dass ich die Mitmenschen ziemlich mag, sie jedenfalls
nicht für dümmer halte, als mich selbst. Und dass ich die
Niederschläge hinnehmen konnte als Auszeit, um tief durchzuatmen und
neu zu sortieren.
In meine Liste der Dankbarkeiten gehören
auch Kinder, Bäume, Hunde, Bücher, intelligente Zeitungen, mein
Auto - mit Schiebedach, gut in diesem langen Sommer. Dank für Retter
in der Not und Völkerfrieden, dass es so was wie die UNO gibt und "Brot
für die Welt". Und Musik und TV und PC, die mich schöpfen lassen
die Bilder und das Wissen der Welt. Dankbarkeit ist doch ein Vergnügen.
Schreib deine Liste. Dankbarsein macht schön.