Traugott Giesen Kolumne 10.05.1997 Hamburger Morgenpost
Wenn du gekränkt bist
Es ging dir einer an deine Ehre, meinst du. Deine Würde siehst du besudelt,
siehst dich verspottet, fühlst dich schikaniert. Dann mußt du
was richtig stellen. Aber zuerst prüfe deine Optik. Es kann sein, du
bist ein Geisterfahrer.
Einer auf der Autobahn hört den Verkehrsfunk: "Achtung, ein Geisterfahrer
kommt entgegen." Und der im Auto sagt sich: "Was denn, Einer? Hunderte!"
- Es kann sein, daß du dir beleidigt und ungerecht behandelt vorkommst,
dabei bist du der Brandstifter und der mit dem Brett vorm Kopf. Wie der in
der Telefonzelle: Der zieht und zerrt und kommt nicht raus; zuletzt ruft
er den Notruf an: "Ich kann nicht raus, ich ziehe und schaff es nicht; man
hat mich eingeschlossen." Der Helfer am Ende der Leitung: "Dann drücken
sie doch mal." - Ist das eine Erlösung.
Es kann sein, daß du dich verfolgt fühlst; aber kein Mensch will
dir was. Es kann sein, daß du als persönliche Kränkung siehst,
was eine sachliche, demokratische, rechtmäßige Entscheidung ist.
Und in keinster Weise wurde so entschieden, um dich zurückzusetzen.
Diese Verschwörungsidee, laß sie überprüfen - es gibt
Fachleute für Innen: Therapeuten, Pastoren, auch Anwälte; ruf die
Telefonseelsorge an: Schildere deinen Fall; frag, ob du mit deiner
Einschätzung richtig liegst.
Kläre mit einem Neutralen, was an der Sache dran ist. Das ist das Mindeste,
bevor du Wut entwickelst und Energien in Rache steckst.
In Sachen Liebe ist überhaupt keine Rache am Platze. Geht eine Liebe
verloren, ist das so traurig, es schneidet dermaßen ins Fleisch, allen
Beteiligten - da soll man nur lindern und trösten und sich wenigstens
um Großzügigkeit mühen für den Verlassenen.
Aber wenn du wirklich gekränkt wurdest, dann rück es zurecht. Bring
deine Wut an die Quelle der Kränkung. Schreib einen Brief, tritt ihr
entgegen. Sag klar, was du mußt. Und bitte um erneutes Beraten. Schimpf
nicht. Wirb beim Gegenüber, dich ernst zu nehmen. Er muß davon
sich was versprechen, noch mal die Sache zu überlegen. Bahne eine andere
Sicht der Dinge an durch Andeutung auch eigenen Ungeschicks.
Einige Sachen müssen auch juristisch geklärt werden. Wenn du das
Gefühl hast, da wird nur wieder ein Dummer gesucht, dann sag an der
richtigen Stelle Bescheid. Gutherzig bis zur Blödheit sollst du nicht
sein. "Klug und ohne Falsch" - das ist ein starkes Maß. Einige Schmerzen
der Zurücksetzung müssen wir hinnehmen, von dir ist auch mancher
enttäuscht. Und: Wir beherbergen Unduldsamkeiten aller Art - nur dankbar
können wir sein, wenn wir keine Macht haben, Unrecht mit Gewalt
durchzusetzen.