Traugott Giesen Kolumne 08.11.1997 aus Hamburger Morgenpost
Scham ist Menschenrecht
Sei froh, daß du dich noch schämen kannst. In einem Nu steht
es vor dir: So nicht, so nie mehr. Und du heulst oder reißt dich
weg, zu einem langen Gang möglichst durch Regen; oder du schreibst
den Brief oder trittst ihr vor die Augen und gestehst oder gibst das Gestohlene
zurück oder bittest den von dir Niedergemachten um Verzeihung; oder
kündigst diese miese, knebelnde Freundschaft; oder du vertraust dich
endlich an dem Seelenkundigen
Sieh deine Scham mit Dank: Du merkst noch dein Schweinsein. Du hast
noch genug Gefühl im Leibe, um dich selbst an die Kandare zu nehmen.
Du traust dich, deiner Fehler ansichtig zu werden. Auch wenn du bei andern
gut dastehst, du weißt deine wahren Interessen; vielleicht ist Zeit
für Scham.
Scham ist bei uns in Verruf gekommen durch den Befehl: �Schäme
dich!� � Uns wurden die Gesten beigebracht, die zu leisten waren, wenn
wir uns nicht korrekt benahmen. Wir sollten schuldbewußt gucken,
wenn wir in die Hose gemacht hatten; sollten uns bei der Tante entschuldigen,
wenn wir wegen ihrer Körperfülle oder über den ulkigen Hut
lachten; wir sollten weinen, wenn unser Klauen offenbar wurde, dabei mußten
wir doch in den Film.
Und die Geographie des Geschlechtlichen hieß gleich ganz pauschal
�die Scham�; ein Knäuel von Hemmungen sind mit dieser Schöpfungsgabe
heillos verwickelt. � Einige davon sind hilfreich, sie schützen vor
Übergriffen, einige Hemmungen � Rotwerden, schweißige Hände
� braucht man längst nicht mehr; gut, von vielen Befangenheiten sich
zu entledigen.
Doch Scham ist zu kostbar, um sie ins Museum der Gefühle abzustreifen.
Menschlich macht das reuige Bewußtsein, sich vergangen zu haben gegen
Lebendiges, Schönes, Gutes, � wehe wir verlachen es oder trainieren
es im Wettbewerb des Lebens ab. Nie wollte ich meine Kinder schlagen und
doch habe ich es in der Not fehlender Selbstbeherrschung getan und schämte
mich. Und wie achtlos gehe ich oft an bettelnden Menschen vorbei, oder
registriere hochmütig des andern schleppende Rede. Ich will besser
merken, was mit mir ist und was ich denke, � und wenn das Schrott ist,
will ich den Schrott mir nicht schönreden; Scham soll mich zur Besserung
katapultieren. Scham ist meine rote Ampel: ich tue, was ich für schlecht
halte. Wenn Rabauken Naziparolen ausstoßen, überkommt mich als
Zeuge Scham; ich muß mich gegen die Meinung der Kerle absetzen und
möglichst sie zum Denken zu bringen suchen. Auch das �auf die Schippe
nehmen� kann vom freundlichen Necken schnell ins Verhöhnen umkippen,
� mein Gewissen zeigt mir mit Anflug von Scham die Gelbe Karte � noch kann
ich die Situation retten.
Scham ist das Persönlichste überhaupt. Darum kann man sie
nicht befehlen, sie nicht einklagen. Aber offen zeigen, wo meine Grenze
ist, darauf hat ein Recht wer mir nahe steht. Scham behütet; aber
Liebende dürfen sich eine Blöße geben.