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Erlöse uns von dem Bösen

Solange wir leben, bleiben wir verwickelt in Böses, es ist ein Jammer. Wir wollten den kleinen Bruder quälen und haben seinem Lieblingskuscheltier die Augen ausgekratzt. Und wenn uns eine List einfiel, um den Nebenbuhler auszutricksen, dann fühlen wir Triumphgefühl. Und wenn die Patentante, die uns zum Geburtstag nur mit der Ansichtskarte bedachte, das Bein gebrochen hat, dann empfanden wir Schadenfreude. Und unsere Steuererklärung frisieren wir gern, und über den Kollegen sagen wir lieber was Böses, und das Zimmer mehr als nötig behalten wir gern, und der Kaffee sollte preiswert sein, auch wenn die Pflücker nur fünfzig Pfennig Stundenlohn dafür bekommen. Und müssen wir etwas bereuen, dann schmerzt uns nichts so sehr das leid, das wir dem anderen angetan haben, sondern mehr noch die Ungelegenheit, die wir uns selbst einbrockten. Und vergeben tun wir fast nur, wenn es sich lohnt. Und noch das Sterben lassen wir uns sauer werden, weil wir eigentlich uns viel zu schade für den Tod halten, wo es doch anderen noch so gut geht.

Bis in die Tiefenschichten unserer Seele sind wir mit Bosheit durchwachsen, einige raffinierter als andere, einige gedämpfter, angepasster. Aber ich weiß von mir genug, um inständig zu bitten: Erlöse blich von dem Bösen. Martin Luther soll ja gestorben sein mit den Worten: �Wir sind Bettler, das ist wahr.�

Auf uns, auf mich gesehen: ein sattes Knäuel Egoismus, das geschickt genug ist, manchem zu nützen und davon meist auch Nutzen zu haben. Aber ich weiß, es ist nicht mein Verdienst, noch nicht vor Gericht gestanden zu haben und noch nicht im Gefängnis gelandet zu sein, nicht kirchlich beauftragter Verbindungsmensch zur Stasi gewesen zu sein, nicht in eine verhängnisvolle Affäre verstrickt zu sein. Und dass die eigenen Kinder nicht Asylsuchende verfolgen und nicht mit Drogen sich betäuben, ist nur Gnade und kein Verdienst. Und zum Privaten kommt, dass wir verwickelt sind in böse Strukturen: Autofahren, 130 Liter Wasserverbrauch pro Kopf und pro Tag, und was wir verbrauchen, was ich verbrauche an Papier und Waren und Nahrung aller Art. Eine meiner Definitionen ist jedenfalls auch, dass ich Müllproduzent bin und als DM-Besitzer privilegiert. Die Milliardengewinne der Deutschen Bundesbank kommen auch mir zugute, kaum nehme ich aktiv teil an Politik; keinem Asylsuchenden habe ich Unterkunft besorgt. �Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende hat die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen.

Der dort ruhig über die Straße geht, ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde, die in Not sind? Es ist wahr: Ich verdiene noch meinen Unterhalt. Aber glaubt mir, das ist nur Zufall. Nichts von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen. Zufällig bin ich verschont. Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren. Man sagt mir: Iss und trink du! Sei froh, dass du hast! Aber wie kann ich essen und trinken, wenn ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt? Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gern auch weise. In den alten Büchern steht, was weise ist: sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit ohne Furcht verbringen. Aber ohne Gewalt auskommen, Böses mit Gutem vergelten, seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen, gilt für weise. Alles das kann ich nicht: Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!� (Bertolt Brecht)

�Erlöse uns von dem Bösen� ist die dringlichste aller sieben Bitten, auch wenn ich nicht weiß, wie sie erhört werden soll. Aber dass diese Bitte getan werden soll, ist erhellend. Denn weil diese Bitte getan werden soll, sind die Leiden, die mit Leben verbunden sind, nicht banal, nicht Sachzwang, nicht blindes Fatum, nicht unter den Teppich zu Kehrendes, nicht achselzuckend Hinzunehmendes. Sondern die Leiden dieser Erde, das Böse von uns, sind des Schreiens, der Empörung, der Tränen und des Flehens um Erlösung wert.

Und damit wird uns auch der Mund verboten, Gott verteidigen zu wollen etwa mit dem Hinweis, die Ewigkeit himmlischer Freuden werde den hiesigen Jammer leicht aufwiegen. Dass Jesus uns diese Bitte nicht nur freigibt, sondern uns aufgibt, kennzeichnet das Böse als Störung, als Defekt, ja als Katastrophe der Schöpfung. Gerade nicht sagt Jesus: Schluckt runter, beißt die Zähne zusammen, seid tapfer, stört doch Gott nicht. - Er sagt auch nicht: Schaut auf die, die es noch schlimmer haben. - Er sagt auch nicht: Ihr habt doch gar kein Recht auf leidloses Leben. - Jesus spornt uns vielmehr an, Gott als zuständig für die Erlösung vom Bösen zu sehen: Liegt Gott in den Ohren, bittet, suchet, klopfet an bei Gott! So erst ist das Böse wirklich ernst genommen.

Damit rückt Jesus auch allen Idealisten den Kopf zurecht. Wer meint, wir könnten durch sorgfältigere Erziehung und besseres Vorbild und mehr Güte von Mensch zu Mensch die Erlösung vom Bösen bewerkstelligen, der irrt: Nicht wir werden aufgerufen, das Böse zu besiegen. Wir haben genug damit zu tun, am Bösen zu leiden und uns ihm zu unterziehen und die andere Wange auch hinzuhalten, wenn wir es können. Wir haben genug damit zu tun, Leid zu tragen, statt es abzuwälzen. Wir haben genug damit zu tun, die anderen im Leid nicht allein zu lassen und uns vor die Asylbewerberheime als Schutzschilde hinzustellen. Das Leid artikulieren, es erleben, es spüren und um Erlösung flehen, ist unseres. Auch Schmerzen lindern, Böses nicht vermehren, ist unsere Sache, aber Enttäuschung und Erniedrigung und Versagen und Erschöpfung und Verzweiflung sind Bestandteil eines jeden ernstzunehmenden Lebens. Erst wenn wir das wissen, wenn wir dieses Wissen zulassen, erschließt sich das Wunderbare dieses Gebetes.

Gott hängt mit der Ursache der Verzweiflung zusammen. In Verzweiflung hänge ich mit Gott zusammen. Die Nervenenden aller Leidenden vibrieren in Gottes Rückenmark, die Schreie gellen in Gottes Herz. Gott selbst, wie Jesus ihn uns vorlebte, ist aufgerissen von Leid. Er leidet am Bösen und arbeitet es durch. Darum: Gott liegt mit der Welt noch in Wehen.

�Erlöse uns von dem Bösen�, das ist wie ein Anker, denn man auswerfen kann auf tobendem Meer, und dieser Anker gibt dem Schiff Halt. Vorn, vor uns Erlösung, vorn ist der Anfang von Heilwerden. Nicht glasharte Verzweiflung, nicht allgemeingültiger Kummer, nicht Missachtung und Verhöhnung unserer Sehnsucht steht uns bevor, sondern Rettung. Unwiderruflich tröstlich färbt diese Bitte das Leid der Welt und helfe dir und mir, erfindungsreich und duldend dem Leben ein Stück Segen abzugewinnen.

Erlösung von dem Bösen ist mitten unter uns im Anbruch, ist schon im Werden. Ein Beispiel: Unser Wissen verklagt uns. Mein Gewissen weiß, welche blutrünstigen Gedanken ich habe. Ich weiß es von mir, und du weiß es von dir. Das produziert Selbsthass in uns und Schrei nach Bestrafung. Und wenn uns schon einmal etwas Schlimmes widerfahren ist, dann sagen wir selber, das ist doch die Strafe für ... Wir suchen Bestrafung. Und wir suchen Entschuldigungen. Das ist der wahre Grund, weshalb wir so scharf drauf sind, dass andere böser sind als wir, dass Bösewichter da sind. Wie lechzen wir danach, dass wieder ein Wohlbekannter einer Unkorrektheit überführt ist! Und wenn in den Medien einer vorgeführt wird, der wirklich Schändliches getan hat, wie dann unsere Empörung aufwallt und wir ihm die Schuld aufbürden, letztlich - damit wir relativ unschuldig dastehen. Doch unser Gewissen weiß (darum doch das Wort �Gewissen�) um uns selber.

Hier im Gewissen hebt die Erlösung an: Ja, du bist auch mies, aber von Gott geliebt. Was alles du auch sein magst, vor allem bist du Gottes Kind. Du gehörst nicht dem Bösen, sondern dem guten Gott. Du bist gehalten von der Liebe. Das erklärt dich für gut, auch mit deinen bösen Seiten.

Glaube ist, nicht mir zu glauben, nicht an den Teufel zu glauben, sondern an Gott, den Liebhaber des Lebens. Und wenn das Böse wie ein Schwindelgefühl dich wegzuschwemmen droht, dann lass dich fallen in diese Bitte: Guter Gott, erlöse uns von dem Bösen.

Predigt aus St. Severin, Keitum; veröffentlicht in: Traugott Giesen - Vater unser in Ewigkeit. Amen - Radius-Verlag, 1993, vergriffen.


 




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