Keitumer Predigten   Traugott Giesen   05.08.2001

Heilen, lindern, heilen, aber nicht rütteln an den Pfeilern des Lebens

Johannes 9,1-7 "Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder."

Mir ist das die liebste Wundergeschichte des Jesus-Christus. Schon wie es beginnt: Jesus mit seiner Schar unterwegs. Ein Mensch am Straßenrand. Blind von Geburt an. Jesus sieht ihn, die Jünger nehmen ihn als Fall für eine theologische Debatte. Ihr Vorurteil war: Körperliche oder geistige Gebrechen, Mißbildungen, Krankheiten überhaupt seien Strafe, seien verfügt, seien verhängt für Sünde. Dann bleibt ihnen nur die Frage: Büßt er für die Eltern oder für sich?

Ein riesiges Feld tut sich auf: Wir wünschen uns im Innersten: Es muß doch eine Gerechtigkeit walten, die Ausgleich schafft für Mangel und Schuld. Wir verlangen so was wie Fairneß vom Leben. Wir wollen ja den unverschuldet in Not Geratenen wenigstens über Wasser halten, wollen, dass er eine neue Chance erhält, legen dafür auch zusammen in Form von Steuern. Auch wollen wir Buße für Schuld. Wollen kurz und zur Not auch schmerzlich bestraft werden, wenn es dann nur wieder gut ist. Ja, wir wollen Sühne für Schuld. Wollen nicht, dass der Täter unbestraft davon kommt. So bieten sich Menschen zum Ausgleich an, fahren sich zu Tode, weil sie meinen, ein Verhängnis liege über ihrer Familie und ein Opfer könne das Schicksal gnädig stimmen. Dieser Sühnegedanke hat eine lange Geschichte, half ja auch, den Rechtsfrieden wieder herzustellen, der auf "Auge für Auge , Zahn für Zahn" geeicht war, irgendwie ist auch Jesu Tod verstanden worden als Opfer für der Welt Sünde.

So konnte auch Krankheit und körperliches Gebrechen verstanden werden als Bezahlen von Schuld aus vorigen Leben - manche halten ja diese Karma-Gesetzmäßigkeit für tröstlich: Mein Gebrechen, meine Missbildung ist für was gut, sie macht Schaden meiner Vorfahren wett. Diese Idee gibt dem Leid scheinbar einen Sinn. Aber diese Idee ist doch letztlich ein Jammer. 1. Ich bin kein eigener Mensch, sondern nur Fortsetzung anderer, für die ich büßen soll, auch wenn ich sie gar nicht kannte. 2. Darf ich dann nicht Mittel einsetzen, die meinen Schaden beheben könnten.Tatsächlich war das lange eine Art Chinesische Mauer für medizinische Kunst: Leiden, Krankheit, Missbildung seien Strafen, persönlich von Gott verhängt. Man durfte zwar den Garten der Heilkräuter nutzen, durfte auch für Geburtenverhütung das Wissen vom Zyklus nutzen, aber nicht Verhütungsmittel. Die Natur sei als Wille Gottes zu nehmen, die Natur dürfen wir nutzen, vervollständigen, veredeln, aber nicht korrigieren oder einschränken - darum keine künstliche Verhütung. Man berief sich auf das Wort des Schöpfungsberichtes: "Und Gott sah an, was er geschaffen hatte und siehe, es war sehr gut, da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag" (1. Mose 1,31). Doch schon diese Basis ist brüchig: "Siehe, es war sehr gut" meint nicht: perfekt und vollkommen. Sondern: "Siehe, es ist gut, ist sehr gut für weiteres." Der Basistext steht im ersten Kapitel der Bibel, nach den ersten 1 1/2 Seiten kommen noch 1400 Seiten dazu, Nach der Erschaffung der Welt ging es erst richtig los mit der Geschichte Gottes mit seinen Menschen. Der siebte Tag steht noch aus.- Unsere Bibel endet mit der Erwartung: Ja, komm Herr Jesus; und die Gnade des Herrn sei mit allen! - Also Weite und Fülle, und Vollendung ist angesagt.

Darum ist nicht alles, was ist, aus dem Rückwärtigen zu erklären. Ist nicht nur Wiederholung und Wiederkehr, Wiedergutmachung, nicht Kreislauf, Ring der Zeit. Sondern was ist, ist auch Anfang, ist Station auf dem Werdeweg, ist Werden. Gottes Für-uns-dasein ist noch im Werden, gewinnt noch Gestalt. Auch die Natur ist noch am Werden, noch im Wandel, Gott schafft noch. Es ist noch nicht alles perfekt. Darum ist auch nicht alles so wie es ist, der Wille Gottes, sondern ist als Werdendes Wille Gottes. Und alles Werdende hier hat hier seine Zeit und alles Tun und Lassen sein Ablaufen, seine Stunde.

Und Jesus fuhr seinen Jüngern in die Parade: Was diskutiert ihr über die Herkunft des Mangels. Diskutiert doch über die Zukunft- es sollen die Werke Gottes an ihm offenbar werden. Nicht Frucht der Sünde, sondern Saat der Hoffnung, nicht Sündenfrucht ,sondern Hoffnungssaat ist dieser Mensch und alles Lebendige. Ja, Blindgeborensein ist Mangel, der Mangel kann auch Ursachen in der Vergangenheit haben. Aber der Sinn ist nicht Reparatur des Vergangenen, sondern Gedeihen der Gegenwärtigen. An ihm soll das gute Tun Gottes offenbar werden. Wäre sein Mangel Strafe hätte, Jesus nichts machen dürfen als zu wünschen: Bleib stark und halte durch. Du hilfst den leidenden Seelen, denen dein Leid zugute gehalten wird. Doch so dreht er unser aller Denken nach vorn: Leid ist da, um es zu lindern, Hunger soll gestillt werden, Kranke sollen heil werden- wenigstens legt ihnen die Hände auf, dass es besser wird mit ihnen!, ist Gebot.

"Die Natur sei Punkt für Punkt Wille Gottes" - diese Schranke im Kopf hat Jesus weggesprengt. Natur ist Werde und Vergehewelt - dem Menschen anvertraut, im Gehorsam gegen Gott sie auch untertan zu machen. Wir sollen uns die Natur zuordnen - den Tieren Namen geben - ist so ein Bild für Zuordnen der Tiere, wir sollen die Natur bebauen und bewahren - wohl wissend, dass wir selbst von Erde genommen sind. Als Vorbild für pfleglichen Umgang wird der Garten dargestellt und der Weinberg - also Arbeit und Veredelung ohne Ende - und Frucht ist Freude. Und eben für pfleglichen aber bestimmenden Umgang mit der Natur auch Jesu Tat dem Blinden:

Jesus spuckte auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder. Wieder Korrektur der Natur mit Hilfe von Natur: Jesus gab von seinem Saft und nahm was von der Kraft der Erde und wies ihn ans Element Wasser, Jesus heilt den Mangel mit Gottes Überfluß. Wir modernen Menschen wissen, dass Krankheit, Schmerzen, Alter, Tod Bedingungen jedes lebenden Organismus sind. Und werden in der Nachfolge des Jesus die natürlichen Gegebenheiten nicht für bare Münze, nicht für Befehl Gottes nehmen, sondern als Ausgangsmaterial für Besseres. Der Mensch ist von Gott zur Erkenntnis freigesetzt. Wir sind verantwortlich, das Leben zu fördern und nicht zu beschädigen, unsere Begabungen gehören zum Kräftehaushalt Gottes. Wehe, wir vergraben unsere Talente, statt sie in Arbeit anzulegen, der Arbeit soll Freude, soll Nahrung, soll Hilfe und viel Grund für "Lobe den Herrn" entspringen.- Auch die Tiere sollen einstimmen können, und uns nicht millionenfach verklagen, das jetzt nur nebenbei.

Jesu Heilung des Blinden hat grundlegend geklärt: Gott macht nicht Missbildungen, verhängt nicht AIDS. Sonst hätte Jesus nicht heilen dürfen. Das war ja der Grundstreit mit den Theologischen Gelehrten seiner Zeit: Was maßt er sich sich an, Gott zu korrigieren. Jesus aber sieht sich als Weiterführer, als Hand Gottes, als Offensichtlich-Macher seiner Taten. Und Gottes Tun ist Erbarmen: Im Apokryphen Buch Weisheit 11,23.24.25 heißt es: "Du erbarmst dich über alle. Und du übersiehst die Sünden der Menschen, damit sie sich bessern sollen. Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts, von dem, was du gemacht has; denn du hast ja nichts bereitet, gegen das du Haß gehabt hättest. Du schonst. Denn es gehört dir, du Freund des Lebens." Also Ist Gottes Tun: Heilen, Nähren, Helfen, Schützen, Versöhnen.-

Aber noch bitten wir: dein Reich komme. Noch ist das Reich Gottes, wo nur noch "Fried und Freude lacht" erst im Rohbau da, mit des Paulus Worten: "Wir habe jetzt den Schatz nur in irdenen Gefäßen" (2. Korinther 4,7), "es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden" (1. Joh.3,2). Klar nur Jesu Wort: "Es sollen die Werke Gottes an ihm, an uns offenbar werden."

Ich meine dieser große Zusammenhang hilft auch in der Diskussion über die Grenzen der Gentechnik. Es gibt kein Zurück in die Wiederverzauberung der Welt, kein Zurück zur Natur als Notenschrift Gottes, als müsse man alles nehmen, wie es kommt. Jesus hat uns freigesprochen zum Gutmachen, hat uns zum Heilen beauftragt. Viel Leid ist mit dem Lebensanfang und dem Lebensende verbunden. Ins Leben gerufen werden und aus dem Leben gerufen werden - Lebenseingang und -ausgang stehen besonders unter Gottes Schutz und sind mit dem Gebot bewehrt: "Du sollst nicht töten."- Der große Theologe Daniel Schleiermacher hat diesem 5. Gebot zur Seite gestellt: "Du sollst nicht absichtlich lebendig machen" - also wünsch dir nur, Vater, Mutter zu werden, wenn du die Freiheit deines Kindes im Auge haben willst, nicht aber die Befriedigung deiner Wünsche betreibst - unter Aufbietung aller wissenschaftlichen Möglichkeiten. Kinder sind eine Gabe Gottes - wie viel medizinische Mühen dürfen Menschen einfordern, um ihren Wunsch nach selbstgezeugten, selbstgeborenen Kindern sich zu erfüllen? Aber wer will da richten? Gott hat uns mit Neugier und Forschungstrieb ausgestattet, dieser ist Bestandteil der Kräfte Gottes und hat zu all den heilenden Medikamenten und Operationstechniken geführt.

Aber nur eins: Bei der künstlichen Befruchtung werden viele Embryonen hervorgerufen. Dies erst gibt die Möglichkeit, sie zu untersuchen und die Versuchung ist dabei, unter ihnen auszuwählen und die verheißungsvollste Zellkultur einzupflanzen und die übrigen - ja tiefzugefrieren, oder zu vernichten oder um an ihnen zu forschen. Aber schon das Wort Zellkultur verwischt, dass es menschliches Leben ist, mit dem was angestellt wird, was nicht diesem Leben dient. Dann wäre der Sündenfall schon die künstliche Befruchtung, weil sie so viel Leben ins Leben ruft, das nicht leben darf. Gibt es denn ein Recht auf ein Kind, ein selbstgezeugtes Kind? Soll man die Künstliche Befruchtung, die so viele Embryonen freisetzt, wieder verbieten? Weil sie einhergeht mit Tötung vieler anderer Lebenspotenzen? Und sie nutzen, weil sie nun einmal da sind, das verzweckt Leben. Und das soll auch an den äußersten Rändern nicht sein, hier sollte den Anfängen gewehrt bleiben. Gott sucht ja mit seinen Forschern noch die Mittel gegen AIDS und Krebs und Mukoviszidose und und und. Aber entscheiden, das werdende Leben mit Beschädigung sei nicht lebenswert? Wenn die Eltern sich zur Abtreibung entschließen, sie haben unser Mitgefühl, aber wenn Fruchtwasseruntersuchung bald Pflicht wird, und ein Kind mit Behinderung von der Krankenkasse nicht mehr gefördert würde - es ist doch dieses Kind, das leben soll. Wenn wir das fraglich machen, ist die Bestellung bestimmter Gencocktails nur noch eine Frage der Zeit.

Wir alle haben die volle Offenbarung der Werke Gottes noch vor uns - sind aber auch angestellt, jetzt schon alles zum Besten, zum Bestmöglichen zu kehren und die Lasten mitzutragen. Wir sind aus passiver Schicksalsergebenheit vertrieben. Wir sind verpflichtet, den nahrhaftesten Reis zu züchten und die milchreichsten Kühe und die keimfreiste Art der Blutübertragung zu finden. Es gab Zeiten, da hielt man es für Gott gegeben, dass zwei von drei Kindern bei der Geburt starben, und viele Mütter im Wochenbett. Aber Gott will weniger Leid. Darum ist uns die Verminderung von Leid geboten, aber nicht durch Designen des perfektionierten Menschens. Sonst wird mal Leid unter Strafe gestellt und Eltern behinderter Kinder werden von den dann Erwachsenen Behinderten verklagt und Gebrechlichen wird der Gnadentod verordnet. Wer für seine Person auf menschliche Würde Wert legt, muß sie an den Rändern schützen - dass auch das hilfloseste, ausgeliefertste Leben Recht auf Leben hat. Und das schwächste Menschenleben ist das Leben vor der Geburt und das Leben nah am Sterben. Es hüten, es behutsam hegen, Schmerzen lindern mit den dafür von Gott geschaffenen Opioniden, aber nicht Leben abschaffen, nicht das Kleinste zerlegen zu anderer Leutes Nutzen. Wir sollen heilen, vor allem mit Brot, Reis für die Welt - wir sollen heilen, aber dürfen die Pfeiler des Lebens stehen lassen. Amen.

Gebete

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