Keitumer Predigten   Traugott Giesen   19.08.2001

Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis gehören zusammen

Johannes 4

Psalm 42,1-3 Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele Gott zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue?

Jesus kam in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld mit Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war vom Laufen, setzte er sich am Brunnen nieder, um die Mittagszeit. Da kommt eine samarische Frau zum Wasserschöpfen. Jesus sagt zu ihr: Bitte, gib mir zu trinken. Die Frau sagte zu ihm: Wie, du, ein Jude, der du bist, von mir zu trinken möchtest du, einer Frau, einer Samariterin, die ich bin? Jesus sprach zu ihr: Wenn du wüßtest, was Gott gibt und wer ich bin, dann würdest du mich um frisches Wasser bitten, und ich würde es dir geben. Spricht zu ihm die Frau: Herr, hast du doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du dann lebendiges Wasser? Bist du mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und hat daraus getrunken und seine Kinder und sein Vieh. Jesus erwiderte: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten, wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten. Das Wasser, das ich ihm gebe, das wird in ihm selbst eine Quelle werden, die ins ewige Leben quillt. Spricht die Frau zu ihm: Herr, gib mir solches Wasser, damit mich nicht dürstet. Jesus spricht zu ihr: Geh hin, ruf deinen Mann und komm wieder her! Die Frau antwortete: Ich habe keinen Mann. Jesus spricht zu ihr: Du hast recht geantwortet: Ich habe keinen Mann. Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann; das hast du ganz richtig gesagt. Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, du bist ein Prophet. Jetzt sag mir aber eins: Unsere Väter haben auf diesem Berge Garizim angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten müsse. Jesus spricht zu ihr: Frau, es kommt die Zeit, da wird man weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten. (Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden.) Es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit. (Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist anbeten und wie es ihm zukommt.) Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, daß der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin's, der mit dir redet. Da stellte die Frau ihren Krug ab, ließ ihn zurück und eilte und in die Stadt und spricht zu den Leuten: Kommt, seht einen Menschen, der mir alles auf den Kopf zugesagt hat, was ich getan habe, vielleicht ist er der Christus! Da gingen sie aus der Stadt heraus und kamen zu ihm, um der Frau willen und ihrer Rede, die bezeugte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe. Und die Leute baten ihn, bei ihnen zu bleiben; und er blieb zwei Tage da.Und noch viel mehr glaubten um seines Wortes willen und sprachen zu der Frau: Von nun an glauben wir nicht mehr um deiner Rede willen; denn wir haben selber gehört und erkannt: Dieser ist wahrlich der Welt Heiland.

(Übersetzung mit Klaus Berger u. Christiane Nord, Insel Verlag. - Die weggelassenen Verse haben keine Bedeutung für das Verständnis des Gesprächsverlauf.)

Das ist eine Geschichte, die uns mit Christus in ein Zwiegepräch saugt. Wir können die zwei am Brunnen sein, jeder kann die beiden Rollen in sich erwecken. Du, ich die Frau am Brunnen und die Leuchte Gottes, der Prophet, der Messias. Beide Stimmen in uns: die normale und die uns auf große Fahrt mitnimmt. Das Bild von Jesus und der Frau am Brunnen - zeitlos, ein Urbild der Menschheit: Einer versorgt, einer beseelt: ein Mensch schöpft Wasser, ein anderer teilt Himmelswissen aus. Wasser und Geist - die Lebensstoffe überhaupt - keine historischen Mitteilungen, kein Zurück in die biblische Zeit. Sondern die Lebendigkeit dieses Paares ist in uns. In jedem von uns soll die Quelle vom Wasser des ewigen Lebens sprudeln.

Gehen wir den Weg mit, wie die Frau den Messias und sich erkennt: Erst ist da nur ein durstiger Irgendwer, dann der Sohn Gottes, erst ist sie eine wasserholende Magd, in Liebeshändel verfangen, dann wird sie Prophetin. Zwei in Not treffen sich, zwei Mängelwesen. Er fertig von der Hitze, sie fertig von abgebrochenen Lieben. Und sie geben sich, was sie haben. Sie nehmen und geben voneinander. Im Laufe des Gespräches geben sie sich einander, erstarkt gehen sie voneinander und teilen mit anderen. Durstig sind beide und überwinden die Schranken Frau, Mann, Jude, Samaritaner. Sie stärken sich, ein jeder mit dem was er hat, und haben Gott genossen, in Form von klarem Wasser, das die Lebensgeister zurückruft. Und haben Gott geahnt in Form des Stromes, der ins ewige Leben fließt, von Liebe getragen waren sie Treibgut ins ewige Hellwerden. "Im religiösen Niemandsland", ohne theologische Weihen, aber jeder nah an sich selbst, mit seinem Ich, seiner Wahrheit fanden sie sich nah am Sinn der Welt. Mann bittet Frau, Jude bittet Samaritaner, zwei Welten, zwei Abgründe hoch zwei. Doch bedürftig, der eine nach Existieren, die andere nach Sinn: Wasser als Bild für Ernährtwerden und Von- Sinn-gehalten, Wasser trinken, von Wasser getragen sein. Brunnen steht für Tiefe. Sie reden, empfänglich, "sie ergänzen sich in der Richtung ihrer inneren Bewegung" (R. Musil) und das Reden verfertigt Stufen auf ein neues Niveau.

Aber erst prangt die Frau, die Besitzende, die Sichere, die Verwalterin der Schätze, die uns unser Vater Jacob gegeben hat. Uns - wem uns? Durst leidet Mensch dahin. Vor der Not sind alle gleich. Und doch kann sie es nicht lassen, erst mal zu necken - ist das der richtige Ausdruck? Vielleicht auch eine feine Rache für Demütigungen von Männern, von hochmütigen Fremden? Jesus stellt ein schönes Geschenk in Aussicht. Wasser des ewigen Lebens. Sie weiß nicht, was gemeint ist. Sie ist ganz nah am Realen, vielleicht Wasser frei Haus, nie mehr schöpfen gehen, das wäre Glück. Aber ihr Mangel liegt tiefer, sie braucht ein Wasser anderer Art, muß mit ganz anderem Wasser gewaschen sein.

Jesus wechselt äußerlich das Thema, spricht sie unvermittelt auf ihr Geheimnis, ihr Innerstes an. Er bringt der Frau die Unruhe ihres Lebens zu Bewusstsein. Diese Unruhe treibt sie von einer scheinbaren Erfüllung zur Nächsten, auf der Suche nach so was wie ewiggültiger Heimat. Uns hat alle die Sehnsucht nach Ewigem, wir sehnen uns nach Sinn, der ins ewige Leben quillt. Die Sehnsucht, zu lieben und geliebt zu sein, kann uns nur erst Gott erfüllen. Er ist unser ewiges Gegenüber, seine Liebe rief uns ins Leben, sein Lieben rinnt in unserm irdischen Liebhaben, und er nimmt uns wieder auf.

Darum werden wir hier nicht satt, wieviel Männer oder Frauen wir auch haben und sie uns. Wir können uns nicht Gott werden, nur Leidensgefährten, wir können uns nicht Hafen sein, nur Schutzhütten. Wir können uns den Durst nicht heilen, nur eine Strecke ihn mildern. Jesus nimmt unseren unersättlichen Durst nach Wasser zum Bild für unseren Wunsch nach Liebe. In der Unersättlichkeit nach Wasser steckt die Gier zu leben. In unserer Gier nach Liebe steckt die Sehnsucht nach Gott. Ganz eingehüllt, ganz aufgehoben, ganz heil in ihm wollen wir sein. Wir wissen, daß Mensch wie Vieh stirbt, also muß Wasser ewigen Lebens her, das Wissen, du bist ewig gültig, ewig geliebt. Das kann von uns Irdischen aber nur aufflimmern, wie Meeresleuchten.

Wehe wir verwechseln Menschen mit Gott - dann müssen wir von einem zum andern, weil keiner, keine gut genug ist. Laßt uns lieben auf irdische und unvollkommene Weise.

Die Frau ist umwerfend ehrlich: Fünf Männer, aber keiner, zu dem ich gehöre. Resignation über alle Funde schwingt mit. Darum das Gehen von einer zur anderen, von einem zum andern, aus Illusion, hier ganz zu werden mit dem idealen Partner. Dabei können wir nur einander Spuren, Duft, Fingerabdruck von Ewigem sein, nicht der Himmel. Wir können uns nur als Treibgut auf den Wassern glauben, die zum ewigen Leben hin quellen, aber sind noch nicht im Himmel. Ja, "Die Blüte irdischer Liebe nahm ich mir zum Pfand fürs Reich des Geistes und der Güte." (M. L. Kaschnitz). Wir können einander nicht heimholen in die erfüllte Fülle. Darum keine Suche nach dem Idealen, nach Vater oder Mutter Gott auf zwei Beinen. Wir sind hier auf der Durchreise und behalten das Fernweh. Es befeuern miteinander ist höchstes Glück von uns Irdischen.

Jesus weiß die Zahl der Liebhaber. Aber das Wunder ist: Die Frau merkt selbst was sie sagt: Auf der Suche nach Liebe flieht sie von einer Umarmung zur Nächsten. Das ist eine Art Verzweiflung, denn die Frage bleibt: So, nun habe ich mich satt gegessen, und was soll ich jetzt tun? (F. M. Dostojewski). Wir verlangen nach Anerkennung von Ewiggültigem. Anfaßbar haben wir nur "den Schatz in irdischen Gefäßen"(2. Korinther 4,7). Lieben auf irdische und unvollkommene Weise, unenttäuschbar, geduldig, geht nur, wenn wir unser kleines Glimmen der Liebe als Leuchtspuren der ewigen Liebe nehmen, als Krümel und Goldhaar, aber nicht als das Ganze. Der ist nicht Vater Gott. Die ist nicht Mutter Gott. Nur aus Angst vor dem Alleinsein, vor dem Tod, flieht man zueinander, als wäre man einander ewiger Hafen. Dabei sind wir uns doch nur - aber was heißt hier "nur" - Gefährten auf dem Weg zu Gott.

Die Frau eilt bald zur Stadt: Er hat mir alles gesagt. Sie wird sich selbst durchsichtig. Du mir ein Prophet: du Aufdecker, daß ich Religion im Leibe habe und jetzt weiß, was ich suche. Das sagt sie jetzt in religiöser Sprache: Wo beten? Eure Tradition, unsere Tradition - welche ist richtig: Anbeten auf dem Berg oder in Jerusalem? Jesus: es wird die Zeit kommen, und fängt schon an, da brauchen wir nicht bestimmte Orte, sondern eine andere Art: Anbeten im Geist und wahrhaftig, anbeten von innen her, das Herz auf die Zunge bringen, und sich selbst vor Gott ausdrücken. Wo anbeten? ist eigentlich die Frage: zu wem? Zu dem, der in Christus sichtbar wird, der so hinhörend, freundschaftlich deine Seele erhebt. Darin ist Jesus der Sohn Gottes, der Messias, daß er uns Gott vorstellt: so zu dir gekehrt wie du der Ohrmuschel des Geliebten, so ist Gott, das Herz aller Dinge. Gott weiß dich, und das ist gut. Darum ist nichts Schlechtes an dir.

Du Sohn, Tochter des Ganzen. Du bist da, weil er dich hält. Das ist dir klar. Und jetzt blüh, überlass dich deinem Gutsein. Im Nehmen und Geben, im Teilen von Leben ist Christus mitten unter uns. Er ist das Sinnbild für wahres Leben, nämlich geteiltes Leben.

Sie läßt ihren Wasserkrug stehen. Eilt zur Stadt: posaunt, der hat mir mein Leben erhellt. Das und das hat er zu mir gesagt. Die Nachbarn eilen hin zu Jesus, auf das Wort der Frau hin. Dann hören sie selbst. Sie sagen es: wir haben Christus selbst gehört. Lang ist der Weg in den Glauben, mit dem Glauben. Der Offenbarer wird erkannt, indem ich mich selbst erkenne. Wir können Gott nicht an und für sich erkennen. Wir können uns nur in Gott erkennen. "Die Freiheit in Gott ermöglicht die Weite des Herzens" (Drewermann).

Amen.

(Zum Ganzen : Eugen Drewermann Tiefenpsychologie und Exegese II.)

Drucken