Keitumer Predigten   Traugott Giesen   18.08.2002

Unsere Sintflut


1. Mose 6-8 in Auswahl

"Als aber Gott sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden, da reute es Gott, dass er den Menschen geschaffen hatte, und sprach: Ich will sie vertilgen. Noah aber hatte Gnade gefunden vor seinen Augen.
Und Gott sprach zu Noah: Baue ein Schiff zur Rettung und gehe in die Arche du und dein ganzes Haus. Nimm von allen Tieren paarweise mit, damit das Lebendige am Leben bleibe. Denn ich will regnen lassen vierzig Tage und Nächte hindurch, dass alles sterbe.
Und Noah ging mit dem Vieh in die Arche und Gott schloss hinter ihnen zu und es regnete und die Wasser wuchsen und hoben die Arche und sie schwamm hoch über der Erde. Und alles, was Lebensluft atmete und nicht in der Arche war, das starb. Dann irgendwann ward dem Regen vom Himmel gewehrt und die Wasser verliefen sich nach und nach auf der Erde Und Noah öffnete das Fenster. Und ließ eine Taube auffliegen, die aber kam wieder zur Arche, weil sie nichts Trockenes fand. Sieben Tage später ließ er sie abermals fliegen. Sie kam zurück und trug ein frisches Ölblatt im Schnabel. Dann weitere sieben Tage später ließ er die Tauben beide fliegen und sie kamen nicht wieder. Da tat Noah das Dach von der Arche und siehe da, der Erdboden war trocken geworden. Da baute Noah dem Herrn einen Altar und brachte Dankopfer dar. Und Gott roch den lieblichen Duft und sprachbei sich selbst: Ich will hinfort die Ere nicht mehr verfluchen um des Menschen willen- ist doch das Dichten und Tachten des Menschen böses von Jugend auf. Ich will nie mehr schlagen alles, was lebt. So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze , Sommer und Winter Tag und Nacht. Und er sprach zu Noah: Nehmt den Regenbogen als Zeichen meines Versprechens, dass die Erde Heimat des Lebens bleibe. -Soweit die Zusammenfassung der drei biblischen Kapitel." 1. Mose 6-8.

Seit Menschengedenken sind Feuers- und Wassersnot die Schrecken der Menschheit. Erdbeben und Vulkanausbruch passieren weit weg. Aber die große Flut von 1362, die Mandrenke, riß hier die halbe Westküste weg und machte Sylt zur Insel, zur schmalen Gräte; bis 8 km reichte mal das Land weiter nach Westen, 14 alte Kirchen soll es auf Sylt gegeben haben, jetzt nur noch zwei. 1962 brach die Flut über Hamburg ein mit 300 Toten. Und jetzt überschütten die Fluten der Elbe Städte und Dörfer, Häuser treiben weg, Tausende müssen ihre Wohnungen verlassen, Kranke werden evakuiert, Alte wähnen sich im Krieg. Milliarden Euro machen die Schäden. Hinzu kommen die Fluten am Schwarzen Meer, in Tschechien, in Österreich und Italien, in Bayern.

Und wieder fragen Menschen: Warum, warum das Leid? Manchmal ist die andere Straßenseite verschont und die ein Stockwerk höher sind Davongekommene. Und wir hier auf Sylt haben Urlaub, Sommertage wie nie - gerecht ist das nicht, wie kann Gott das zulassen? Aber soll er uns auch unter Wasser setzen, alle gleichmäßig? Es muß möglich sein, dass wir die Flut auch als unser Unglück nehmen. Wenn es uns den Schlamm nicht ins Schlafzimmer wälzte, dann lasst uns wenigstens mit zahlen, wenigstens ein Zimmer säubern, sagen wir jeder zehn Stunden Arbeit, wir fahren hin, leisten das per Hand oder zahlen den Lohn für zehn Arbeitsstunden oder einen neuen Teppich. - Aber ich merke, ich fange schon an zu rechnen, ich bin ein sündiger Mensch.

Das Wort Sintflut, Sündflut steht für Riesenunglücke im Gedächtnis der Menschheit bereit. Hinter jeder großen Flut taucht die Urflut auf, sie bündelte die extreme Bedrohtheit des Lebens. Die Menschheit hat ja viele Katastrophen über sich ergehen lassen müssen und einige rührten an die Wurzel des Lebens. Millionen Jahre lang war es sowieso völlig fraglich, ob die Menschheit als Projekt des Lebens überhaupt durchkomme. Die zwanzigtausend Jahre alten Felszeichnungen von Lascaux zeigen die riesigen Wisente und Auerochsen, die zu besiegen größte Dankbarkeit und Demut gegen den Himmel wert waren.
Heute ist das Leben wieder bedroht und jetzt aus zu viel Menschenmacht. Wir können die Natur auf ein niedriges Niveau zurückbomben. Auschwitz und Hiroshima, Bopahl und 11. September sind die Daten der extremen Gefahr, die von uns und gegen uns ausgeht. Hinzu kommen die Naturkatastrophen, die sich häufen. Und wir dachten, das passiere nur weit weg, in Bangladesh oder bei Erdbeben in der Türkei oder Kalifornien. Und jetzt fließen hier Flüsse durch Bahnhöfe, es ist „eine Urflutszene, vor der ein Mensch zum Däumling wird“ (B. Strauß), Menschen und Vieh ertrinken, Häuser, Felder, Gärten werden weggerissen, Kunst löst sich auf, Lebenswerke von Menschen, ihre Häuser, Wohnungen sind verloren, viele haben nicht mehr als ihre Haut gerettet. Und wenn das Wasser mal abfließt, ist Dreck und Zerstörtes überall.

Die Angst kann man den beinah Ertrunkenen nicht abnehmen, die Ohnmacht beim Blick auf die leere Stelle, wo eben ihr Haus , ihr Garten war, kann man nicht teilen. Aber die materiellen Werte wiederbeschaffen, die Heimat ihnen wieder mit aufbauen, das können wir versuchen.. Und wenn wir das nicht tun, dann müsste über uns es doch auch sich so ausschütten. Das ist unsere Sintflut, das müssen wir so sehen. Darauf kommt es jetzt an, dass wir uns diese Flut geschehen lassen. Wir müssen mithaften, mitbluten, miteinstehen, müssen uns mitgetroffen sein lassen.

Denn wir haben diese Sintflut mitverschuldet. Wir schinden doch die Natur, habe ich das richtig gelesen zur Herstellung eines Autos verbrauchen wir 200.000 Liter Wasser, bei der Kohle- und Stahlgewinnung lösen wir Riesenmengen Wasserdampf aus. Unser Verbrauch von Energie erwärmt die Erde, lässt die Pole schmelzen und die Gletscher - und eben feierten Begeisterte in religiöser Verzückung das neue Auto unter dem alten Namen Bugatti, das hat 18 Zylinder, wo es viere auch tun. Umweltfrevel, das Versiegeln von Landschaft, Industriebrachen lassen wir liegen, fruchtbarer Boden, der Regenwasser in Fülle aufnehmen konnte, wird neu bebaut. Dazu die Brandrodung, die globale Verwüstung, Stürme und Wassermassen, Tropische Monsune in Europa. Weil wir haben, haben wollen, immer mehr verbrauchen und immer mehr Müll produzieren. Weil wir böse sind, jedenfalls blind für den Zusammenhang, - durch die Bank.
Man muß doch Angst kriegen, dass ein Erdensterben anbricht. Inzwischen hat der Mensch soviel Macht, dass er die Erde aus ihrer Umlaufbahn treiben kann, und mit AIDS und Hunger kann er sich ausrotten, mit Fluten viel Nährboden absaufen lassen, mit Wüsten und Abholzen verdursten lassen. Ist es wieder soweit, dass Gott uns ausrotten muß, um das Leben zu erhalten? Muß Gott die Natur vom Mensch befreien, uns als Fehltritt seiner Schöpfung zugeben und uns aufgeben?

Die Menschen haben sich schon oft für hinfällig gehalten und für hoffärtig, und für verworfen, haben Bußtage ausgerufen, und Sündenbekenntnisse vor Gott gebracht, haben riesige Tempel und Kirchen zur Wiedergutmachung gebaut, die Deutschen haben viele Milliarden Mark für das Unrecht des deutschen Volkes unter Hitler den Opfern oder Ihren Nachkommen entgegengebracht. Wir haben ein Ahnen von Unrecht. Die Natur wehrt sich - sagen Einsichtige. Wehrt sich Gott in der Natur, mittels der Natur?

Die Bibel bewahrt die Geschichte auf davon, dass Gott die Menschheit widerruft, - beinahe ganz - damals, als die Urflut weite Teile der Erde überrannte. Ein wunderbarer Homer der Bibel, genannt der Jahvist, nimmt die Geschichten von der Urflut auf, wie er sie gelesen haben mag in den Archiven von Ur oder Ninive. Er sieht Gott verzweifeln an seiner Menschheit - erst der Sündenfall, dann Kain und Abel, dann das Rachemonster Lamech: der singt doch: „Siebenundsiebzig mal soll Lamech gerächt werden, wenn ihm was angetan wird.“ Unbegrenzte Rache, Gewalt sondergleichen, zeichnet sich ab, schon in der frühen Menschheit. Der Dichter der Bibel sieht Gott verzweifeln, dass er dem Menschen zuviel Macht anvertraut habe und schreibt: „Da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen. Da sprach Gott: 'Das Dichten und Trachten des Menschen ist böse von Jugend auf', darum will ich die Menschen, die ich geschaffen habe vertilgen von der Erde." Er bekommt die Menschen nicht heil, sie fahren die Erde zu Schanden. So widerruft er sein Werk, jedenfalls die Menschen, die ertrinken, verstehen es so.
Aber einer hat Gnade gefunden vor seinen Augen.
Er erhält den Auftrag, ein Rettungsschiff zu bauen, auch für die Tiere. Beides: Gott vernichtet und legt den Anfang, ertränkt die einen, aber schließt sorgfältig die Tür der Arche hinter den Wenigen zu. So sieht es der Alttestamentliche Erzähler: Gott ist willkürlich und gütig: Den Sündenfall lässt er zu, er stellt die Versuchsanordnung der Sünde und macht die Menschen erwachsen, also ihm ähnlich. Den Mord des Kains lässt er zu und verbietet die Todesstrafe. Die Sintflut läßt er los und macht den Neuanfang. Dies Dunkel-Hell Gottes ist rettend und erschütternd zugleich. Ist das Gott, der tötet und lebendig macht? Wir könnten uns nicht beschweren, kann sich denn der Stoff, der Ton beschweren über die Hand des Töpfers? Müssen wir nicht zufrieden sein über diesen allmächtigen dunklen, auch zornigen, auch grimmigen Gott, der auch verwirft? Der Gerechtigkeit erzwingen will, nach seinem Maß: „Alle in den Orkus“ - ja verdient hätten wir es, keiner ist die Auferstehung wert, auf sich gesehen.

Aber genau das Bedürftigsein ist unsere Rettung, genau unser Sündhaftsein erweckt Gottes Erbarmen: Er ist sensationell, nachdem Noah aus der Arche tritt und ein Dankfeuer entzündet - hört der Glaube des alten Israels Gott sagent: Niemals mehr Vernichtung mehr! Weil böse, darum braucht der Mensch Rettung, nicht Strafe; braucht Liebe nicht Züchtigung. „Das Dichten und Trachten des Menschen ist böse" - darum will ich, Gott, nicht mehr dreinschlagen. „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht." Und setzte den Regenbogen als Zeichen des Bundes ein zwischen Gott und der Erde.

Das ist das Wunder in aller Not, das Rettende in aller Verzweiflung: Gott sichert den Bestand der Schöpfung gegen die menschliche Willkür, nimmt uns in Schutz vor uns selbst. da legt sich auch für sich selber darauf fest: Nie mehr Sintflut, nie mehr Ausrottung der Menschheit. Der Treueschwur Gottes an seine Schöpfung heißt, Gott trägt die Menschenschuld mit, er lässt die Verwüstung sich selbst geschehen, die leidende und Leid zufügende Menschheit ist sein Fleisch. Das pflanzt die Hoffnung ins Schmerzliche. Gott bekommt uns zurecht. Er arbeitet noch an uns, auch das sagt der Regenbogen. Darum müssen wir diese Flut nehmen als Fanal, dass wir unsere Besitzgier und Benutzgier beherrschen lernen müssen.

Gott verhängt keine Sintflut mehr. Aber "er gibt uns dahin an unser Tun“ (Römerbrief 1). „Womit jemand sündigt, damit wird er auch bestraft“- (Weisheit 11,16). Wir müssen ausfressen, was wir eingebockt haben. Das ist die Regel eines erwachsen gewordenen Glaubens: Wir dürfen Gott nicht unsere Pleiten anhängen und die Siege uns ans den Hut heften.
Die Güte Gottes ist: wir sind in einem rettenden Zusammenhang, wie verblendet auch einzelne noch herumfuhrwerken. Wir sind fast mit ertrunken, haben mit den Müll im Wohnzimmer. Es ist reiner Zufall, dass wir jetzt nur mitzahlen brauchen; aber das lasst uns auch tun.
Es ist unsere gemeinsame Schuld, die tropische Zustände jetzt zu uns hinkehrt. Wie genau die Zusammenhänge sind, können wir wegen unserer kleinen Wissensfrequenz noch nicht durchschauen. Aber jedes Stehen an der Fußgängerampel im stinkenden Autoqualm macht uns doch klar, dass Mutter Erde leidet. Darum muß ein „Notopfer Wasser“ organisiert werden, das uns alle mitzahlen lässt. Keiner ist schuldlos. Keiner hat das Recht, die im Schlamm allein zu lassen.

Hören wir noch einmal die Warnung, die am 18. November 1992 von mehr als 1600 Wissenschaftlern aus 69 Ländern - darunter 101 Nobelpreisträgern - ausgesprochen wurde. Der wichtigste Satz aus diesem Aufruf lautete: „Nicht mehr als eine oder ein paar Dekaden verbleiben, um die akuten und die voraussehbaren Bedrohungen für die Menschheit noch abzuwenden... Entweder es gelingt, eine fundamentale Umstellung in unserer Fürsorge für die Erde und das Leben auf ihr, oder wir gehen einem unermeßlichen menschlichen Elend und einer irreparablen Verstümmelung unserer globalen Heimstatt entgegen." Warum versagen die meisten Menschen und vor allem auch fast alle verantwortlichen Politiker angesichts dieser berechtigten Warnung? Weil es bequemer und weniger schmerzhaft ist, weiter an einen grenzenlosen technisch-wissenschaftlichen Fortschritt zu glauben, der die von ihm geschaffenen Probleme auch wieder lösen werde. Die moralische Sensibilität der Menschen ist stärker geworden, aber sie konzentriert sich auf relativ belanglose individuelle Vergehen, während das Hauptverbrechen - die ungebrochene Fortsetzung des naturzerstörenden industriellen Wachstums und Vermüllung des Planeten - weitergehen.
Wir alle sind Nachkommen Noahs, jeder hat seine Arche schon erfahren. Und vielleicht ist das die wichtigste Frucht der Raumfahrt: Der Mensch kann auf seine Erde sehen, kann in einem leeren, schwarzen Weltall gewahr werden den wunderbaren blauen Planeten, seine Heimat, und ein ungeheures Heimweh zieht die Weltraumpassagiere wieder nach Hause. Seit dem Menschen auf dem Mond wissen wir um die erhabene Schönheit und Zerbrechlichkeit der Schöpfung. Wissende knien nieder wie Noah und werden künftig anders leben. Lasst uns dabei sein. Amen.

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