Traugott Giesen Kolumne 25.03.2006 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Liebe Sonne, gib mir mehr

Himmel und Erde

von Traugott Giesen

Ein langer Winter lag auf unserm Land. Die im Süden litten unter soviel Schnee, wie seit Jahrzehnten nicht mehr, und jetzt unter bedrohlichem Hochwasser. Auch hier im Norden war es bös rauh, das Dunkel schmerzte. Aber nun, ein Glück, ist Frühling. Scheint die Sonne, dann halten wir alle dem Gestirn unsere Gesichter hin. Wie im Schlaf gehen wir Passanten aneinander vorbei, nur blinzelnd, wollen keine Garbe Wärme verpassen. Und die Bänke sind voller Menschen, die mit geschlossenen Augen sich der Sonne hingeben. Lächeln zieht über die Antlitze, wir werden mächtig erhoben durch das Strahlen vom Himmel und sein Vitamin D.

Natürlich kann die Sonne auch sengen und zerstören, dann dörren die Felder aus, und Vieh und Menschen verdursten. Es wird auch uns irgendwann wieder zu warm, und wir werden dann denken, was Thomas Mann sagte über einen heißen Sommertag: "Sonne, die Feindin, soll scheinen, aber nicht auf mich."

Doch heute gilt: Sonne, liebe, Sonne, gib mir mehr von Dir! Und die Schneeglöckchen und Krokusse sprießen, die Knospen an den Zweigen schwellen. Die Kinder und die Hunde tollen im Park. Die Paare scheinen sich zu mögen, und die Alleingeher wirken wohlauf in ihrer rosigen Freiheit.

Kein Wunder, daß Menschen das Gestirn verehren; so sehr, daß sie zu Sonnenanbetern wurden. Da wachte die Theologie Israels sehr drüber, daß kein Kuddelmuddel ausbrach: Wohl ist Gottes erste Tat: "Es werde Licht, sprach er. Und es ward Licht." Doch erst am vierten Weltzeittag machte er die "Lampen" am Himmel, eine für den Tag, eine für die Nacht. Damit stellt der Glaube klar: Die Idee "Licht" ist wie das Gute die wichtigste Schöpfungstat Gottes. Sonne, Mond und Sterne aber sind nur Beleuchtungskörper, die zu funktionieren haben. Zum Anbeten sind sie nicht. Also danken wir nicht der Sonne, aber liebend gern für die Sonne. Dies gigantische Atomkraftwerk strahlt uns Licht und Wärme ab. Bei aller Einsicht in die Materie ist es doch zum Liebhaben schön. Wir wissen, daß abends die Erde sich wegdreht aus ihrem Lichtschein, und trotzdem sehen wir sie untergehen und morgens wieder aufgehen. Sieht man am Meer diesem Schauspiel zu, dann ist es ein starkes Bild vom Sterben. Und es bleibt ein Wunder, daß ein neuer Tag kommt und wir die Sonne wieder noch sehen können. So ist es ein Hoffnungszeichen für Auferstehung. Und für die Liebe. Und für die Wahrheit.

Daß die Sonne dir scheint, Mensch, dir zugute einen neuen Tag hervorbringt, nimm es als Auszeichnung. Wir dürfen noch die Sonne sehen. Tun wir Taten, die das Licht der Sonne nicht scheuen müssen. Und auch einen Gedanken wert: Den Tag der Auferstehung des Herrn, den wir ja als Feiertag geschenkt bekommen, nennen wir Sonntag. Heiligen wir ihn auch mit einem Spaziergang, der uns dankbar macht, vor allem wenn die Sonne scheint. Denn dann "hat es ebenso viele Rubinen auf dem Mist wie Perlen im Tau" (G. Flaubert).

Traugott Giesen war Pastor in Keitum auf Sylt. Er schreibt unregelmäßigen Abständen sonnabends in der WELT.

Drucken