Traugott Giesen Kolumne 09.12.2006 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Advent braucht doch jeder

Dass etwas anfängt, ist wichtig. Genug endet, vergeht, ist vorbei. Genug auch währt, bleibt, steht, beharrt. Wir kommen her von langer Hand und leben jetzt. Aber wenn Jetzt nicht auf Neues zugeht, ist das, als liefen wir aus, sind Auslaufmodelle eben, ohne Kinder, ohne neue Tage voll unausdenkbar neuer Möglichkeiten. Darum ist Advent sensationell: Vor uns Nennenswertes, Frieden wird eröffnet, Himmel bricht an, Liebe erfindet uns neu. Vor uns Auferstehung mitten am Tag, eine große Dynamik ergreift uns - ein Sog zu neuen Ufern erfasst uns. Sieh Dich an als Energiebündel Gottes. Mit Dir verwandelt sich die Lage; kommst Du in den Raum, geht einem ein Licht auf. Keine anderer Mensch verkörpert Aufbruch und "Jetzt geht's los" mehr als Jesus Christus - Leuchtfeuermensch. Er bläst Dir Heiligen Geist in Dein Lebensflämmchen, er weckt die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit. Er ruft zum Kampf für Gerechtigkeit, die Fanfaren der Menschlichkeit treiben an, Hunger zu stillen und Leid zu lindern. Darum doch all die festliche Beleuchtung, all die Lockungen doch, zu schenken, letztlich weil in uns eine Sehnsucht glimmt, dass wir bessere Menschen werden, jetzt. Auch durch Geschenke machen, Plätzchen backen, die Zimmer schmücken. Natürlich kann das alles Tand sein, Selbstbeschäftigung, Ablenkung von den wahren Problemen. Was nützt ein Schmuckstück für die Gemahlin, wenn man in Gedanken weit weg ist, was sollen Plätzchen, wenn man allein lässt.

Und doch kann Advent der Anfang von Heilung sein, der Abschied von Narzissmus und Um-sich-selber-Kreisen. Gleich feiern wir die Geburt des Gotteskindes. Ungeheuerliches ist damals passiert: Der Schöpfer von allem wird Mensch. Und erleidet und genießt ein Erdenleben exemplarisch: am Anfang der Stall, am Ende das Kreuz - damit niemand mehr sage, Gott habe keine Ahnung von Schicksal und Leben.

Seitdem ist es glaubhaft, dass das Geschehen von Gott mitgelebt wird, ja, das Geschehen gotteskarätig ist. Und jedes Ereignis, auch das fürchterliche, noch Werdekraft bei sich hat - jede Tatsache ist eingewebt in den Teppich der Geschichte. Jetzt sehen wir den Teppich nur von links mit groben Fäden und Knoten und Schlingen. Aber dann werden wir den Teppich des Lebens von rechts sehen, und alle Tränen werden abgewaschen sein, und auch der Tod wird ausgedient haben. Noch ist Angst, Leid, Weh und Ach. Und die hunderttausend Vorfreuden, die Sonnenfäden des Glücks. Noch sind wir voll Sehnsucht, dass Ankunft geschehe, Genesung, Versöhnung, Entschuldung. Noch zünden wir eine Kerze an. Sind einander ein Licht.

Was können wir bewegen, versuchen, zueinanderrücken! Sieh Dich doch als Türöffner, Friedensstifter, Chancenbesorger, Verknüpfer, Anstifterin zur Heilung des zerstrittenen Freundeskreises. Der Heiland braucht heute unsere Hände, unsere Augen, auf dass er immer neu geboren werde.

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