Traugott Giesen Kolumne
11.11.2000 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Fremde teilnehmen lassen
Ich bewundere Menschen, die in der Welt
zuhause sind. Sie suchen das Fremde, bemerken es, bestaunen es. Und sie
werden im Kontrast dazu sich ihres Eigenen bewusst. Sie glauben, anders
sein zu dürfen und doch geachtet zu sein. Auch sind sie gespannt,
wie sie sich bewähren hinter den Landesgrenzen, im Neuen. Sie müssen
ein gutes Verhältnis haben zu dem, was kommt und wer kommt. Ihr Geheimnis
ist: sie halten sich für willkommen.
Ihre Lust am Fremden muss ihnen auf dem
Gesicht geschrieben stehen, sie müssen glauben, eine Verheissung gehe
mit ihnen: dass sie Segen mitbringen und bei denen lassen, die sie aufnehmen.
Der Fremde war oft der Feind, die Fremden
kamen oft tatsächlich als Besatzer, kamen in Scharen zur feindlichen
Übernahme. Als Einzelne konnten sie Verfemte sein, auf der Flucht,
wie einst Kain. Aber sie konnten auch Engel ohne Flügel sein, die
Güte der Menschen prüfend, und wehe, man vertat die Gelegenheit.
Früher wie heute treibt Hunger die
Menschen dahin, wo sie wenigstens zu essen finden. Wollen wir die Fremden
nicht hier haben, müssen wir ihnen zu Auskommen in ihren Herkunftsländern
helfen. �Es ist gewissermassen das Hereinschwappen ganzer Teile Afrikas
und der Dritten wie der Vierten Welt, die sich kaum darum kümmern,
wo sie sich befinden: sie richten hier ihr Afrika oder was immer ein, ob
es uns passt oder nicht. Lange genug sind sie gegängelt, geprügelt,
ausgepresst worden. Unser Wohlstand beruhte und beruht auf ihrem Hunger,
ihrer Unbedarftheit�. Und dann leben sie ihr Stammesdasein neben deiner
dir teuren Privatheit, Absprachen sind kaum möglich; du entdeckst,
dass du Rassist wirst, bei der bis zur Krisenschwelle hochgetriebenen schwarzen
Musik; entweder sie verschwinden oder du wirst vertrieben (so Paul Nizon).
Doch wir müssen unsere feindlichen
Gefühle gegen den Fremden zähmen. Der Bedürftige stört
unser Wohlleben. Aber wir können ihn nicht vor unserer Tür hungern
lassen. Wenn wir ihn schon nicht auf eine Mahlzeit herein holen, müssen
ihn bitten, einen Schein anzunehmen. Und wir werden die Sozialhilfe mitfinanzieren,
bis er Arbeit findet. Er muss hier zu essen finden, muss hier wohnen können
ohne Angst, seine Kinder müssen hier in die Schule. Schön, wenn
er unsere Sprache lernt, und wir ein paar Sätze der seinen auch.
Etwas in uns weiss, es ist gnädiges
Geschick, dass wir genug haben, um abgeben zu können. Vielleicht sind
wir ja alt genug, um selbst Flüchtling gewesen zu sein; oder sind
Kinder, Enkel von Entronnenen. Was ist besser? Bitten, suchen, anklopfen
oder auftun und in Schutz nehmen können? �Ich bin ein Fremder gewesen,
und ihr habt mich aufgenommen� � wird der Weltenrichter zu den Seinen sagen,
so Jesus im Matthäus-Evangelium, 24. Kapitel. Und wir wissen, das
ist die Wahrheit, die frei macht, auch frei zu erkennen, dass wir Ergänzung
brauchen. Wollen wir doch Fremdheit klug beenden.