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Kolumne 4. Januar 2003 - <br>Mehr Mut zur Rücksicht

Traugott Giesen Kolumne 04.01.2003 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Mehr Mut zur Rücksicht

Rücksicht ist ein Lebensmittel, ein knappes Gut. Wir müssen sie mehren, dürfen sie nicht bespötteln und bewitzeln. Niederträchtig wird Güte oft als Schwäche ausgelegt, nur um eigenes Versäumen zu vernebeln. Schnell sind gute Vorsätze kraftlos; schon an der nächsten Parklücke übermannen wieder Siegeswille und die Gier, eben mal einem zu zeigen, was eine Harke ist.

Überlegenheit nicht auskosten, die Muskeln nicht spielen lassen, den eigenen Dreck selbst bereinigen, eröffnend antworten; mit innerer Ruhe auf seinen Partner warten, der eben mal noch in diesen aber jetzt wirklich letzten Laden will. Und aufmerksamer werden für die Empfindlichkeit anderer, eisern möglichst nicht stören wollen. Allerdings auch sich schützen vor Rabauken, die es überall gibt: Im Restaurant, der Single sitzt am Einzeltisch nahe der Garderobe, „am Katzentisch der Paarwelt - Gelt, sie passen ein bisschen auf meinen Mantel auf"? (B. Strauss). Das Locken zu mehr Rücksicht lädt auch ein, auf sich besser zu achten und freche Zumutungen heiter aber bestimmt zurückzuweisen.

Woher aber die Kraft zur Rücksicht? Es gibt da eine Spur; Nietzsche sagt von uns: „Je mehr sie sich geliebt wissen, desto rücksichtsloser werden sie meistens, bis sie endlich der Liebe nicht mehr würdig sind." Es kann sein, dass wir letztlich geliebt sein wollen, gerade eben um unserer selbst willen, also gerade in Kenntnis unserer Makel und gerade nicht, weil wir viel versprechend wären. Wenn an dieser Sehnsucht was dran ist, dann wollen wir letztlich in der Quelle der Liebe baden, wollen eigentlich im Mitmenschen auf Engel treffen, fordern unser Gegenüber oft geradezu heraus, sein gutes Gesicht zu zeigen und nicht zu verdammen.

Dann ist das Rücksichtslose im Kern die Suche nach Geliebtsein von so was wie Gott. Wir suchen seine Engel. Aber wir sollten Mitmenschen nicht überfordern, keinem zuviel Gutheit abverlangen. Rücksicht treffe sich mit Vorsicht: Selbst zurechtzukommen hat Glanz. Schaff Spielräume, halt für den Ungeduldigen eine Lücke frei, gib dem Fordernden ein Pflaster der Genugtuung. Man weiß nicht unter welchem Druck der Andere steht - vielleicht rettet deine Freundlichkeit an der Ampel ihm das Leben; weil du seinen Rempler sportlich nehmen konntest, stürzte er nicht mit dir ins Handgemenge und vors Auto. Soviel Wahnsinn ist nur eine Handbreit vor der Explosion, nur ein Nervlein muss blockieren und man hat sich verhört oder versehen oder verfahren oder vergangen. Wenn da ein Engel auffängt, noch mal langsam und deutlich wiederholt, noch mal fragt, ob man wirklich so grausam ist. Es ist viel Rettung in der Welt, Rücksicht hilft zu überleben.

Wir brauchen nicht grenzenloses Mitgefühl, meist reicht das Spüren, was mit einem selbst los ist; ich muss merken: mich rücksichtslos zu erleben, das behindert meine Freude am Tag.


 




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