Kolumne 10. Mai 2003 -
Eben noch fröhlich
Traugott Giesen Kolumne 10.05.2003 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Eben noch fröhlich
34 Menschen riss es hinweg. Einige bleiben schwer verletzt ein Leben lang.
Entsetzen und Erstarrung vielfach, Zusammenbrüche, eilige Hilfsangebote,
Suchen in den Archiven "Unglücke", einfühlsame Kommentare, mehr
beschrankte Bahnübergänge werden angemahnt - noch hat die Hälfte
der 25 000 Kreuzungsstellen nur Warnblinkanlagen - bald ein öffentlicher
Trauergottesdienst und die Beisetzungen in ihren Heimatgemeinden.
Aber der Verkehr läuft weiter, einige Menschen rasen, einige haben
getrunken, einige schlafen ein, sind abgelenkt, überfordert, fallen
aus, fallen hin, scheitern, versagen, werden schuldig, reißen andere
mit.
Und auf einmal reißt ein Netz, ein Kreis von Menschen bildet sich um
eine Leere. Vater, Mutter, Partner, Freund, nächster Nachbar ist hier
nicht mehr.
In einem Nu sind 34 Menschen an ihr Lebensende gekommen. Uns Lebenden fährt
der Schrecken in die Glieder. Da bricht man auf in fröhlicher Runde,
lacht und spaßt, bestätigt sich gegenseitig, dass nach viel getaner
Lebensarbeit jetzt die schöne Tour einem doch zusteht, hat noch eben
an die wohl versorgten Pflanzen gedacht oder an die schwerstliebebedürftige
Mutter, die man mal eine Woche der Schwester aufgegeben hat. Eben noch ein
Aufatmen: "Ach, haben wir es gut", und ein Winken in Gedanken hin zu den
erwachsenen Kindern, deren Sorgen man nicht haben möchte. Die Augen
saugen die Aussicht ein, eben hat man noch gut gefrühstückt, auch
die Betten im Landgasthof hatten nicht gequietscht, noch ist der Morgen frisch
und der Fahrer hat mit einer zugleich launigen und andächtigen Ansprache
die Gruppe begrüßt. Jetzt glitt man dahin, im Monat Mai, dem Mozart
des Kalenders, die Bäume stehen in Blütenkleidern, die Sonne strahlt,
weiße und rosafarbene Blättchen begleiten den dahinfliegenden
Bus. Da kracht es, und haushohes Metall zerwalzt Leben, zerfetzt Menschen,
es ist ein Kreischen und Bersten, ein Auseinanderfliegen und Heulen und Sterben.
Es ist das Ende der Welt für 34 Schöpfungen, die alle die Mitte
eines Lebenskreises waren.
Es passiert an dem Tag, da das Verfahren über die Schuld am
Eschede-Unglück von vor fünf Jahren eingestellt wurde. Ja, drei
Ingenieure hätten die neu konstruierten Räder nicht genügend
getestet, aber die direkte Fehlerkette ließ sich nicht rekonstruieren.
Und wenn auch? Die Fehler, die zum Zusammenstoß des Busses mit dem
heranbrausenden Schnellzug führten, sind schnell aufgezählt. Aber
alles Unglück, das einer angerichtet hat, ist zu groß, als dass
es ein Mensch tragen könnte. Von einem Angeklagten sagte Robert Musil:
"In den Augen des Richters gingen seine Taten von ihm aus, in den seinen
waren sie auf ihn zugekommen wie Vögel, die herbeifliegen." Wem also
gehört die Schuld daran? Wir wissen einen Gott, der sagt, dass es seine
Schuld ist; zumindest seine Sache. Das ist wohl mit Allmacht gemeint: Alle
Macht, auch die verunglückte, ist Gottes. Es ist zum Heulen. Es ist
ein Trost. Das Leben ist schön und sicher ist kein Nu.