Kolumne 17. Mai 2003 -
Wie du die Welt siehst
Traugott Giesen Kolumne 17.05.2003 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Wie du die Welt siehst
Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus. Wie man sich bettet, so liegt
man. Der Deutsche Botschafter in Israel wurde gefragt, wie man mit ihm umgehe,
und sagte: "Ich nehme es für normal, wie ich behandelt werde." Die eben
gestorbene Gräfin Dönhoff hinterließ in einem ihrer letzten
Gespräche: "Ich habe einfach die Gewissheit, dass mein Schutzengel da
ist. Ich glaube, dass die Welt so ist, wie man sie sieht. Wenn du immerfort
Katastrophen erwartest, dann werden sie auch kommen. Wenn du Vertrauen in
bestimmte Dinge hast, gelingen sie auch."
Erstaunlich, dass wir Menschen so viel Spielraum haben, unser Weltbild mit
zu entwerfen. Früher waren wir zementiert in Geschlechter-, Völker-,
Berufsrollen. Jahrtausende bestellte der Sohn den Acker wie der Vater und
der, wie er es vom Großvater gelernt hat. Ungeheuerlich dagegen die
Umbrüche in den letzten Generationen: Wir alle auf dem Weg, alle am
Lernen und Verlernen. Was ist noch männlich, was weiblich, was ist typisch
deutsch? Die meisten Arbeitsleben haben viele Stationen. Kaum was ist mehr
klar. Hinter der nächsten Ecke lauern viele Möglichkeiten.
"Prüfet alles, und das Gute behaltet" - so schon Paulus, der geniale
Entdecker für den Freisprecher Christus: "Liebet und seid klug ohne
falsch." Diese Anweisung eröffnet ein Leben mit fröhlichem Herzen
und weitem Horizont. Dir ist viel Freiheit für Ja und Nein eingeräumt,
biete dich an, setz du auf Gelingen. Du verknüpfe.
Ja, die Gene gelten lebenslang, aber die Hälfte ist doch Erziehung,
Wille, Vorstellung. Wir sind auch die, die wir waren, aber viel mehr sind
wir doch noch im Werden. Und können jetzt, im heiligen Jetzt, einen
neuen Kontinent Leben entdecken. Ein Hund läuft dir zu und alles wird
anders; Du gehst mit einem und ihr baut euer Glückshaus. Allein neu
vom Geld denken - und plötzlich bist du reich. Du vergibst - und hast
den Kopf frei, bist so viel los. Was alles wir noch schätzen lernen
können! Und endlich tun, was wir uns nie trauten, was aber wir probieren
müssen. Wir können die Welt anders sehen lernen, als sie uns eben
noch vorgefertigt und festgefahren schien. Paulus noch mal: "Nichts ist
verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird." Diese Freiheit, zu tun,
was ich will, wenn es andern nicht schadet, und mich nicht versklavt - dieser
weite Raum ist grandios. Und wir sollen doch mal ein gehöriges Quantum
Welt ausgeschritten haben, wenn wir von hier müssen.
"Wahrscheinlich gab es nichts, woraus Frau Volkmann nicht eine Party hätte
machen können." (Martin Walser) - Das ist die Kehrseite. Wenn jeder
die Freiheit hat, nach seinen Maßstäben zu leben, kann er auch
leicht zur Hölle fahren hier. Darum brauchen wir hellhörige Gewissen,
gefühlskluges Merken und aufgeweckte Freunde, mit denen wir uns beraten.
Aber was dem einen sein Uhl, ist dem andern sein Nachtigall. Es gibt keinen,
der weiß, wie man leben soll, wir tasten alle - trau deinem Gespür,
was gut ist.