Kolumne 24. Mai 2003 -
Schuss vorn Bug - Man ist erschöpft und darf es sein
Traugott Giesen Kolumne 24.05.2003 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Schuss vorn Bug - Man ist erschöpft und darf es sein
Wir sind aus brüchigem Material. Ob Tinnitus oder Infarkt oder Rücken,
Augen-, Magen- oder Speiseröhrenentzündung - irgendwann
stößt vielen ein Pfahl ins Fleisch. Dann waren wir lange schon
überfordert, atemlos, die Nerven lagen blank; wir haben mehr gegeben
als wir hatten. Unser kluger Körper nutzte die Gelegenheit, wir strauchelten
und blieben liegen, waren auf uns selbst geworfen und mussten uns endlich
mit uns beschäftigen. Erstmals waren wir aus dem Verkehr gezogen, waren
nicht mehr gemeint, nicht mehr erreichbar. Durch dicke Scheiben kam aus weiter
Ferne das Leben draußen nur schemenhaft vorbei. Wir mussten lernen:
Es geht auch anders. Es geht weiter - ohne mich.
Das ist Schrecken und Freispruch zugleich. Schrecklich, wie ersetzbar man
ist. Nur ganz liebe Menschen sagen, man sei nicht ersetzbar, nur vertretbar.
Gut zu wissen, dass der Platz freigehalten ist für baldige Rückkehr,
wenn es denn der Fall ist.
Freispruch hängt an diesem Knall, der mich flachlegt und aus dem Verkehr
zieht. Ich darf erschöpft sein, darf klein beigeben, darf auch müde
werden und versagen. Darf mich versagen. Es hat etwas mit Demut zu tun, mit
einverstanden sein, dass auch ich scheitern und ausbrennen kann und nicht
besser sein muss als die rechts und links.
Ein Mediziner sagte, unser Körper sei gedacht für vierzig Jahre,
danach komme mehr oder weniger schneller Abbruch. Aber schon die Bibel schreibt:
"Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's
achtzig Jahre", schreibt aber auch die Bedingungen fest: "und wenn es
köstlich gewesen ist, so ist es auch voll Mühe und Arbeit gewesen".
Also wir sind schon für eine gute Spanne Zeit gedacht, hier auf dieser
schönen, armen Erde. Sind auch als Mitarbeiter gedacht, den Garten des
Lebens zu bebauen und zu bewahren, aber eben jeder nur zuständig im
Rahmen seiner Kräfte, damit es köstlich bleibe.
Da sind wir einfach Verräter am Leben, wenn wir uns und andere gnadenlos
verausgaben. Das Überleben nur der Fittesten mag fürs Tierreich
gelten, aber wir Menschen haben doch andere Talente noch und andere Freuden.
"Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage habe" - dieses Leuchtwort
des Jesus lässt uns auch mit der Kraft heute auskommen. Wir werden unser
täglich Brot haben bei normalem Fleiß. Was brauchen wir
Zweitwohnungen, Weltreisen, Aktienbündel, Dankschreiben? Jetzt auf dem
Kreuz liegend, gemachtes Bett, eine freundliche Schwester, abklingender Schmerz,
ein gutes Buch - du tauchst weg, und bist ganz bei dir (wenn die Kinder versorgt
sind, der Hund gute Nachbarn hat, der Gefährte zurecht kommt). Und in
dir klärt sich der der Blick fürs Wohlbefinden, im Privaten und
im Beruf. Erstaunlich, wie andere auch was können, wenn man ihnen nicht
fortwährend die Arbeit wegnimmt. Und klar: Durch eine schwere Krankheit
wurdest du vor Schlimmerem bewahrt, wenn du für dich gelten lässt:
Das Ziel liegt im Tal, die Besessenheit kann aufhören.