Kolumne 14. Juni 2003 -
Jeder Tod lässt uns noch Lebende mit Schuld zurück
Traugott Giesen Kolumne 14.06.2003 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Jeder Tod lässt uns noch Lebende mit Schuld zurück
Selbstmord, was gibt's da zu sagen? Schon die vielerlei Wörter für
das eine Unfassliche deuten verschiedene Sichtweisen an. "Suizid" - aus dem
Lateinischen: sui cidere - sich erschlagen - bleibt rein äußerlich,
sachlich. "Freitod" ist ein Kampfwort, es reklamiert das Recht auf
Selbsttötung für den Menschen als Besitzer seines Lebens. "Selbstmord"
droht mit den Posaunen des Jüngsten Gerichtes. Es steht ja noch dahin,
wie man mal selbst von hier fort kommt. Wenn Schmerzen unerträglich
werden, wenn Einsamkeit das Herz zerreißt oder Schuld einem die Seele
abnagt - wer schließt für sich aus, dass er dann lebenssatt, nicht
mehr isst, nicht mehr trinkt, nicht mehr will?
Nur gut von dem denken, kann man, der absprang vom Leben, das er nicht mehr
aushielt. Aber doch mit aller Kraft sollten wir uns gegenseitig beistehen,
hier zu bleiben, solange wir dürfen, auf dieser schönen armen Erde.
Es ist uns als einzigem Lebewesen ein Mitspracherecht eingeräumt; der
Mensch kann nur leben, wenn er leben will. So ist jeder Tag unseres Hierseins
auch eine Abstimmung pro vita - und damit auch ein Lob auf den Schöpfer,
wenn wir so glücklich dran sind, ihn zu wissen. Und jedes Kind ist ein
Salut auf das Leben; jedes Neugeborene ein Triumph der Hoffnung über
Selbsthass und Welthass. Wahrscheinlich muss mal auf Selbstmord die Todesstrafe
gestanden haben. Es klingt für uns komisch, aber die von eigener Hand
starben, wurden in dunkleren Zeiten noch mal öffentlich gehängt.
Leben war Pflicht, wo es so mühsam war, sein Dasein zu fristen; vielen
wurde die Lebensglut ausgeprügelt, das Lebenslicht erstickte unter Hunger
und Gram, der Lebensfaden zerriss durch Knechtung. Wäre da die Drohung
mit Höllenfeuer nicht gewesen, wäre wohl die Menschheit ausgestorben
aus Verdruss. Aber mit jüdisch-christlichem Glauben kam erstens die
Abschaffung der Sklaverei, kam jedenfalls die Verpflichtung auch der Herrschaften
zur Nächstenliebe. Es kam durch Jesus ein liebevolleres Gottesbild zur
Welt, das den mitleidenden Gott denkbar machte. Der tat auch den
Selbstmörder nicht als nur undankbar von sich ab. Der schnitt den Judas
vom Ast und lud als guter Hirte ihn sich auf die Schulter, trug ihn nach
Hause.
Ehrendes Gedenken für den, dem der Triebfaden riss, und Mitleid denen,
die unter dem zusammengebrochenen Nachlass zurückbleiben. Und jeder
Tod lässt uns noch Lebende auch mit Schuld zurück. Keiner, der
die Erde verlässt, ist hier genug geliebt worden. Auch darum muss es
ein Darüberhinaus geben. Jeder, der starb, geht unabgefunden in seiner
Sehnsucht. Darum auch reißt sich mancher von hier los, weil er die
Vollendung nicht abwarten kann, er flieht in VaterMutterGott. So gesehen
nimmt er nicht sich das Leben weg, sondern reißt das Ewige Leben an
sich. Beten wir für uns, dass wir nicht "von selber gehen". Es steht
mir nicht zu, mich für "fertig" zu erklären. Was wissen wir denn,
wer wir noch werden sollen. Und der Tod will verdient sein.