Kolumne 12. Juli 2003 -
Jesus - Entdecker der großen Triebkraft namens Vergebung
Traugott Giesen Kolumne 12.07.2003 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Jesus - Entdecker der großen Triebkraft namens Vergebung
Wer die Entdeckung der Bibel noch vor sich hat, ist so ähnlich dran,
wie einer, der noch den Schlaf vor der Liebe schläft, der viel Erkenntnis
noch zu entdecken hat. Man nehme nur diese Geschichte, aus Lukas sieben,
dann muss man doch die Bibel weiterlesen, immer weiter. Die atemberaubende
Geschichte geht so:
Jesus war ins Haus von "Simon, dem Gerechten" eingeladen - die Männer
saßen, halb liegend, beim Mahl. Da trat eine Frau von hinten an Jesus
heran, sie weinte über seinen Füßen, dann trocknete sie ihn
von ihren Tränen mit ihren Haaren und salbte ihn. Der Hausherr redete
abfällig bei sich selbst: Wäre er ein Prophet, dann wüsste
er, dass eine Hure ihm wohl tut, und er würde sich das verbitten. Da
sprach Jesus zu Simon: Ich habe dir etwas zu sagen: Ein Gläubiger hatte
zwei Schuldner, einer war 500 Silbergroschen schuldig, der andere 50. Da
sie es nicht bezahlen konnten, erließ er's beiden. Sag; wer liebt ihn
am meisten? Simon antwortete: Ich denke der, der ihm am meisten geschenkt
hat. Jesus aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. Und wandte sich zu
der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus
gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben;
diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren
Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit
ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen.
Du hast mein Haupt nicht gesalbt; sie aber hat mich gesalbt.
Deshalb sage ich dir: Ihr sind viele Sünden vergeben, darum hat sie
viel Liebe gezeigt. Aber wem - wie dir - wenig vergeben wird, der liebt wenig.
Wer möglichst sich nichts zu Schulden kommen lassen will, der wird wenig
sündigen, wird darum auch nicht viel Vergebung brauchen, wird darum
auch nicht viel Vergebung schenken, wird überhaupt es mit dem Schenken
nicht so haben - denn er meint, er verdanke seinen Erfolg seiner Arbeit und
sei seines eigenen Glückes Schmied.
Jesus ist wohl der Entdecker der großen Triebkraft namens Vergebung.
Sieben mal siebzig Mal sollen wir vergeben. Und um den Balken im eigenen
Auge sollen wir uns erstmal kümmern, ehe wir dem anderen seinen Splitter
unter Vorhaltungen entfernen. Tiefgründig ist Jesu Erbarmen, Judas nennt
er seinen Freund, noch am Kreuz verspricht er seinen Leidensgefährten
zur Rechten und zur Linken, dass sie mit auf dem Weg ins Paradies sind, für
seine Quäler bittet er, "sie wissen nicht, was sie tun".
Der Stoff, aus dem Vergebung ist, ist eine gute Selbstliebe: Man kann dir
deine Ehre nicht nehmen. Was du auch tust, du bleibst, was du bist: Sohn,
Tochter Gottes, du geliebt, gebraucht vom tiefsten Grund. Dies himmelhoch
jauchzende Wissen behalte, auch wenn dich dein Tun zu Tode betrübt.
Weil das Herz aller Dinge dich nicht von sich stößt, kannst du
um Verzeihung bitten, dich um Wiedergutmachung mühen. Und kannst selber
gütig werden und zweite, ja sieben Mal siebzigfache neue Chancen geben.