Kolumne 16. August 2003 -
Zu alte Leute gibt es nicht
Traugott Giesen Kolumne 16.08.2003 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Zu alte Leute gibt es nicht
Wenn Voraussager die Gegenwart bis ins Jahr 2030 fortschreiben, sehen sie
Alarmierendes: Von den dann 60 Millionen Deutschen sind 6,7 Millionen älter
als 80 Jahre, auf einen Arbeitnehmer kommt ein Rentner, auf sieben Paare
zwei Kinder. Immer weniger Junge und immer mehr Alte werden miteinander auskommen
müssen.
Alle brauchen die Hilfe von allen - das gilt erdumspannend, gilt noch deutlicher
für die Bevölkerung unseres Landes, gilt am direktesten für
die Familie. Früher lag bei der Familie alle Verantwortung für
all ihre Glieder. Die Fürsorgekraft der Kinder für die Eltern schrumpft
durch Ausbleiben von Geschwistern. Immer mehr Menschen bleiben überhaupt
ohne Nachwuchs, darum sind immer mehr Menschen ohne Familie, können
also auch bei bestem Willen nicht in einen Familienschoß
zurückfallen. So werden wir alle für alle verantwortlich -
natürlich im Rahmen der eigenen Leistungsfähigkeit.
Und da werden die Privilegien schmelzen; formale Anrechte werden
zurückgestuft, wenn Eigenmittel da sind. Weil wir aber fast alle
eigensüchtig sind, wir alle lieber verfügen als bitten wollen,
wird kaum einer seine Liquidität und Bonität freiwillig
schmälern. Darum muss klare Gesetzgebung gerechte Anteile sicherstellen.
Im Kern müssen wir, jeder für sich, so handeln, dass, wenn der
andere es auch so machte, ein Segen übers Land ginge. Also müssen
wir langfristig unsere Habgier zähmen. Die Gewinne vereinnahmen und
die Verluste auf die Allgemeinheit abschieben, das muss die passende
Ächtung finden. Wir dürfen nicht mehr als clever gelten, wenn wir
Steuern und Abgaben hinterziehen.
Wir brauchen Freiraum, dass jeder eine Wahl hat und die Folgen seines Tuns
auch erntet. Risiken müssen noch deutlicher den Verursachern zugeordnet
werden. Das Lebensnotwendige steht jedem zu. Die Menschenwürde ist
unteilbar, zu alte Menschen gibt es nicht. Keiner muss Schmerz ertragen,
wenn der gemildert werden kann. Keiner muss hässlich werden, weil dritte
Zähne ihm unbezahlbar sind. Zahnersatz ja, aber Fettabsaugen, nein -
oder?
Jesus sagt: Wem viel anvertraut ist, dem wird viel abverlangt - das ist so
und das muss so sein. Viele geben aus freien Stücken großherzig
und treu. Andere müssen wenigstens das Schröpfen der öffentlichen
Kasse lassen. Die gemeinsame Waage zu bauen für die Ansprüche und
Möglichkeiten, ist die dringendste beständige Aufgabe der Politik.
Doch Teufel und Gott sitzen im Detail.