Kolumne 18. Oktober 2003 -
Toleranz ist eine Schwester der Güte
Traugott Giesen Kolumne 18.10.2003 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Toleranz ist eine Schwester der Güte
Wir brauchen alle Toleranz - also Geduld. Und Nächste, die die Püffe
im Zusammenleben abfedern, die Beleidigung überhören, die nicht
drängeln, sondern eine Lücke lassen für den Verrückt-Eiligen
- einfach aus der Ahnung, wie viel Wahnsinn kurz vor dem Ausbruch steht.
Und wir brauchen Courage, den Gewalttätigen abzulenken vom Opfer,
fürsprechen zu Gunsten des Fremden, wir dürfen uns öffentliche
Verharmlosung von Not nicht bieten lassen, dürfen menschenverachtendes
Reden uns und andern nicht durchgehen lassen. Toleranz ist eine Frage des
Maßes. Meine Armfreiheit endet weit vor der Nase des Nächsten.
Wie lange lass ich mir das laute Fernsehen von nebenan gefallen? Es gilt
Zimmerlautstärke, aber ist das die seiner oder meiner Ohren? Soll ich
ihm eine moderne Hörhilfe schenken? Oder doch Dämmplatten montieren
oder ihn rausklagen oder lieber fortziehen? Was zu weit geht, geht zu weit.
Aber wie weit ist zu weit - das zu verabreden, die gemeinsame Waage erst
mal zu bauen, auf der die Beweise gewichtet werden, das ist nötig. Ehe
etwa und Zusammenleben sind lebenslängliches Ausbalancieren von
Selbstbehauptung und Hingabe.
Geduld stiftet Raum für verschiedene Sorten der gleichen Art. Aber
müssen wir als Christen es uns gefallen lassen, dass im Viertel jetzt
der Muezzin mit starken Lautsprechern mehrmals zum Gebet in die Moschee ruft?
Wir Evangelischen haben das Glockengeläut unserer Kirche längst
gekürzt und gedämpft. Und jetzt kommen Zugereiste, die hier sich
Heimat bauen nach ihren Maßstäben. Aber wie sollen wir verbieten,
was ihren Vorstellungen nach ihre religiöse Pflicht ist? Man muss
miteinander beraten, wie der Wunsch der einen mit dem Wunsch der anderen
zu vereinbaren ist, wie die einen zum Gebet gerufen werden können, und
die anderen die Freiheit behalten, nicht gerufen zu werden. Schriftliche
Einladungen kann man sich verbitten, aber wie verbittet man sich akustische?
Ja, man kann sie dämpfen und kürzen. Es bleibt wie bei den Glocken
nur eine Lösung, die von allen Seiten Toleranz fordert. Genauso mit
dem Kopftuch. Die Lehrerinnen sollen im Unterricht nicht ihr Glaubensbekenntnis
vorführen. Wie die Räume nicht mit Kruzifix christlich in Beschlag
genommen werden sollen, so sollen die Lehrkräfte im Unterricht nicht
ihre religiöse Überzeugung zur Schau stellen. Was ist mit dem
Nonnenhabit, was mit schwarzem Anzug, weißem Kollar der Priester? Ja,
wenn sie konfessionsgebundenen Religionsunterricht geben, können sie
in ihrer Dienstkleidung kommen, wie auch der Mufti mit Kaftan oder die
muslimische Islam-Lehrerin im Kopftuch kommen kann. Aber in den normalen
Fächern (außer an Privatschulen), verlangt die Verpflichtung des
Staates zur Toleranz, dass er seinen Lehrkräften die Toleranz abverlangt,
ohne ihr Glaubensbekenntniskleid zu unterrichten.
Toleranz ist Schwester der Güte: Sehe ich einen Bettler, serviert mir
mein Gehirn sofort ein paar Gründe, um das Geld selbst zu behalten.
Ihn zu belohnen für seine harte Arbeit, von mir Egoisten etwas Wohltat
lockerzumachen - das ist eine Prise Heiliger Geist im Alltag.