Kolumne 15. November 2003 -
Wenn ein geliebter Mensch schwach wird
Traugott Giesen Kolumne 15.11.2003 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Wenn ein geliebter Mensch schwach wird
von Traugott Giesen
Es ist ein Segen, einen Menschen zu lieben und ihm nah zu sein, wenn seine Kräfte abnehmen. Können wir als Töchter oder Söhne, schon selbst in die Jahre gekommen, den Eltern jetzt nahe sein, erstatten wir ihnen viel zurück. Wenn es uns vergönnt ist, treu zu bleiben, dann bringt Mutters, Vaters Gebrechen ihnen selbst auch was ein: Sie empfangen Zuneigung, und die oft abweisend schienen, werden noch zärtlich und lernen, Dankbarkeit und Tränen zu zeigen.
Und uns wachsen sie ans Herz, vielleicht zum ersten Mal. Wo nehmen sie die Kraft noch her? Das fragen wir oft, wenn wir sehen, wie sie sich allein noch die Strümpfe anziehen in bald halbstündiger Arbeit. Und wie die Lungen schwer gehen und jeder Atemzug einen Sieg bedeutet. Sie wollen nicht leicht werden wie ein Blatt, das dann abfällt. Sie wollen sich einen Gipfel hochkämpfen. Sie wollen noch hier bleiben mit aller Macht. Ihr Hierseinwollen hat sie ja mit so weit gebracht.
Sind sie noch zu zweit, will keiner den andern allein lassen, es wäre ja wie Verrat, auch wenn einer vom andern und beim andern überfordert ist. Doch auch einer allein kann noch mit Lust hier sein. Sei es, dass sie ihren Besitz nicht allein lassen wollen, sei es, dass sie einfach die Sonne sehen wollen, immer neu, oder Herrn Jauch oder die Urenkel. Und da ist wohl auch Angst haben vor dem Tod. Ja, wenn sie das Sterben als "Heimgang" verstehen könnten, wir ihnen den Himmel lieb machen könnten, das wäre schön. Aber die Widerstandskräfte gegen den Tod darf keiner lähmen. Irgendwann will die Seele schon noch los und überredet dann auch den sesshaftesten Körper. Mancher aber hat einen schwachen Leib und eine starke Sehnsucht nach Drüben. Dann, wenn es Zeit ist, braucht es nur einen tiefen Atemzug, und die Seele ist den Körper los. Aber kompakte Leib-Seele-Menschen entflechten sich nur langsam.
Einen geliebten Menschen bei seinem Wenigerwerden zu begleiten, ist große Arbeit. Man muss ihm Schritt für Schritt immer mehr Hilfe beigeben.
Er braucht Geleit, vor allem Gehör. Wieder und wieder müssen wir ja herausreden, was immer noch nicht zur Ruhe in uns gekommen ist. Wir erzählen dann von unsern großen Epochen, die ja immer auch mit Schuld einhergingen. Da die Altersgenossen einem abhanden kommen, trifft man, wenn überhaupt, auf junge Ahnungslose. Die Enkel, so freundlich sie sich zu einem kehren, sind doch aus einem fremden Land und gehen eilig wieder dahin zurück.
An unsern alt gewordenen Eltern und Nächsten schauen wir auch unsere Zukunft als Prophezeiung. Darum müssen wir zu ihnen gehen, möglichst so oft sie es wünschen. Wir müssen ihr Versorgtsein sicherstellen, dürfen ihre Selbstständigkeit nicht beschneiden. Wie wir mal begleitet sein wollen, mindestens so, müssen wir ihnen gut sein. Dann werden wir auch gern altern, mit nur wenig Angst.