Kolumne 27. Dezember 2003 - Wir haben es in der Hand, dass es ein
gutes Jahr wird
Traugott Giesen Kolumne 27.12.2003 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Wir haben es in der Hand, dass es ein gutes Jahr wird
Der Jahreswechsel ist zuerst mal ein technisches Problem. Die meisten
Umstellungen sind schon programmiert. Es ist kaum noch eine Kerbe sichtbar,
vielleicht weckt ein Doppelpiep, und alles geht weiter. Die Zeit scheint
ein Fließtext zu sein. Nimmt man Landschaft, kommen die Namen hinzu,
aber die stehen auf einem andern Blatt, sind Verabredung. Wie die Namen für
die Orte, so die Jahreszahlen für die Zeit - sie helfen bei Absprachen
aber können auch ganz anders heißen. Darum ja auch die verschiedenen
Kalender der Menschheit.
Wenn wir einen altmodischen Kalender an der Wand haben und das letzte Blatt
abreißen, dann starren wir auf helle Leere. Machten wir einen Augenblick
Halt vor diesem Rest und ließen unsere Gefühle kommen, dann
kröche uns ein Grauen an: Was wäre, wenn die Zeit abbricht? Technisch
gesehen könnte uns in Minutenschnelle eine Eiskruste überziehen,
weil die Erde aus der Bahn gefegt wurde.
Ach, zum Glück haben wir ja soviel christlichen Glauben mitbekommen,
dass uns ein Zeit- und Weltende nicht schreckt. Das ist auch die Beute dieses:
"Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen
mag." Wir brauchen keine Schreckfiguren an Silvester mehr vertreiben, es
gibt keine Macht, die uns böse will - wir Menschen haben es selbst in
Hand, dass es ein gutes neues Jahr wird.
War das alte für dich ein gutes Jahr? Dann wirst du auch herzlich danken
für die Kette Perlen, die Tage voll Chancen, die Nächte voll Erholung.
Du schreibst doch deine Jahresringe, machst Bilanz, nicht nur fürs
Finanzamt, sondern für deine Seele. Du willst doch wissen, was mit dir
ist, willst merken die Bewahrungen, Bedrohungen, die zwei, drei schweren
Fehler, die sechs, zehn Glücklichkeiten deines Jahres. Würdest
du nicht danken, würde dir was Menschliches fehlen, und du müsstest
dringend zum Seelenarzt.
Jedenfalls staunst du auch: Du bist noch hier, du hast noch Zeit. Auch dir
wird ein neues Zeitkonto eröffnet. Sicher musst du auch alte Posten
übernehmen - so ist ja deine Gesundheit die sehr genaue Abbildung deines
Gewordenseins. Wir nehmen uns mit, wohin wir gehen, das gilt für die
Reise im Gelände, wie in der Zeit. Aber wir nehmen auch Landkarten mit
zum Zurechtfinden. Und der neue Kalender - ist auch fürs Zurechtfinden
gut. Er verzeichnet die Tage, die Feste, die Sonnenauf- und Untergänge.
Nicht zu fassen, was alles schon an öffentlichen, uns allen gehörenden
Terminen vorgegeben ist. Allein das weise Wochengerüst verschafft uns
ein (fast) allen vorgegebenes Gefüge. Wenn du jetzt von deinen Lieben
die Geburtstage noch einträgst und von Losgegebenen die Sterbedaten;
und deine, eure Ferien festlegst, dann ist das Gelände 2004 schon
heimatlicher. Und wenn du vorne A(nno)D(omini)_(Jahr Gottes) reinschreibst
und hinten "Es wird gut werden", dann kennzeichnest du dir das Neue als von
Liebe umarmt. Und freust dich, dass es losgeht.