Traugott Giesen Kolumne aus Hamburger Morgenpost 16.05.1998
Unterm Apfelbaum im Mai
Du mußt, wenn irgendmöglich jetzt raus gehen unter Bäume,
am besten unter einen Apfelbaum. Und wenn du nicht raus kannst, dann zieh
vor dein inneres Auge dieses Stück Schöpfung. Nicht auszudenken
eine Welt ohne Apfelbäume.
Die rosa Knospen strotzen vor Verheißung. Aufgeklappt stehen die
Blütenblätter, sie prunken und geben ihr Geheimnis, die Staubgefäße
und Fruchtknoten, frei. Wind und Hummeln tun ihr Gutes. Die grünen
Blätter mit den verblassenden Blüten, gesehen gegen den blauen
Himmel, holen Staunen in dich rein. Du wirst zum Schauenden, zum Betrachter,
der die Tracht Wunder aufsaugt. Du siehst auch den Stamm, bemoost und starr;
er gibt den Ästen Halt für die beschwingten Zweige.
Schon lösen sich einzelne Blütenblätter, Böen schaukeln
sie zu Boden; im Gras liegt schon ein Schleier gefallener Blüten.
Im Blütenbaum wippen Vögel, Amseln hämmern metallen, Meisen
wetzen ihre Schnäbel, Schmetterlinge stromern lautlos und bestreiten
ihren klangvollen Namen.
Ich kann nicht den Blick lassen von dem Baum im rosa Kleid. Er lebt
wohl auch für meine Augenfreude und will mir Andacht schenken. Tatsächlich
ist das Verweilen unter Bäumen ein sanfter, eindringlicher Trost.
Bäume sind Gewißheitsspender. �Gepflanzt wie ein Baum an den
Wasserbächen, der Frucht bringt zu seiner Zeit, und was er tut, gerät
wohl" � ist ein Glücksbild aus der Bibel, das noch jeder versteht.
Der Baum steht auch für völlige Einheit mit der Natur, nur
von Nutzen, niemand zum Schaden, vollkommene Schöpfung. � Und der
Apfelbaum erst recht, bringt er doch die wohlschmeckenden Früchte
zustande, die duften und prangen, und die sagen, daß es gut ist zu
leben.
Hast du den Baum lange betrachtet, so geht er mit dir und bleibt als
Inbild auf dem Grund deiner Seele. Du hast dann ein Schutzbild bei dir
gegen die dröhnenden Forderungen und einschneidenden Maßnahmen.
Alles Wichtige geschieht langsam, leise, kommt und geht, und läßt
Verwandlung zu. Auch Kindern zusehen, stärkt unsere Lebenslust � sie
sind voll Frühlingserwachen; was wieder uns Lust mache, noch wieder
aufzubrechen zu neuer Tat und nächstem Schritt.
Vom Apfelbaum reiß dich los zu deinem Eigenem: Du stehst auch
noch voll in Saft, bist auch schön anzuschauen, deine Kräfte
wollen auch noch Früchte bringen. Du bist gestärkt mit Mut. �Wenn
ich wüßte, daß morgen die Welt unterginge�, sagte Luther,
�dann würde ich noch heut ein Apfelbäumchen pflanzen�. � Energie
aus tiefen Wurzeln muß her, ein Gottvertrauen, das uns trägt.
Der Baum blüht, du liebst, die Welt geht ihren Gang, Leid wird heil.
Das ist�s.