Traugott Giesen Kolumne 28.11. 1998 aus Hamburger Morgenpost
Advent � ich neu denken
�Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der
Herrlichkeit� � das ist ein Schlager unserer Seele. Auch �Es kommt ein
Schiff geladen� steht auf den Charts unserer Sehnsuchtslieder obenan. Der
Traum ist stark vom Heiland, von der heilkräftigen Frau, die uns in
glänzendem Gefährt entführt und hinüberrettet in glückliche
Gefilde. Die Kinos sind voll von Katastrophen mit Happy-End. Doch die Weltuntergangs-Visionen
sind brillant nur im Schildern des Horrors, sie bleiben blaß beim
Bebildern der glücklichen Zukunft.
Dabei sprudelt unsere Seele vor Wünschen und Freuden. Und Advent
feuert eine Vision an, die Rettung von innen bringt. Die wischt das innere
Widerstreben ab und läßt ein Schiff kommen voll Wissen von der
erleuchteten Seele. Advent ist hohe Zeit der Ankunft deines inneren Christus.
Der flüstert dir: Du taugst; du bist gotteskarätig; du hast es
nicht nötig, mies zu sein; du hast Engelskräfte; du hast Mut
und Großmut. Du kannst umkehren, deinen Holzweg verlassen, kannst
die vergiftete Beziehung lösen, du kannst dich lieben lernen und Lasten
neu schultern.
Vor allem willst du neu beurteilen, an welches Unentrinnbare dein Pessimismus
sich hält. Du hast ja deine Anhänglichkeit erkannt an negative
Schlagzeilen; Horror-Prophezeiungen sind dir frische Losungen. Ob Nostradamus
oder ein Komet, ob herrischer Islam oder vergiftetes Wasser oder der Sidney-Virus
� eigentlich egal, woran sich dein Pessimismus labt, deine Angst sich nährt
� Hauptsache, du nimmst das Leben tödlich bedroht und siehst dich
in der Endzeit.
Aber mit diesem Advent lern dich doch anders denken. Sieh dich im Konvoi
mit Liebe. Und die gibt niemanden auf, die kämpft um das Frühgeborene,
die führt den Obdachlosen für die Nacht ins Warme. Gönn
dir die Vision: du glücklich � du mit weniger teuren Wünschen;
du mit mehr Nase ab jetzt, was Freude macht und nicht beschädigt.
Du denkst dich bitte nicht mehr unter zensierenden Augen, die einschüchternden
Sätze hast du eingestampft. Den Freispruch nimmst du dir zu Herzen:
du bist niemandem untertan, du hast nur einen Herren und der ist nicht
von hier.
Du, denk dich neu. Du kannst soviel, du bist zäh und hinreichend
intelligent. Du kannst dich mühen. Für welchen Mist hast du dich
schon alles gemüht? Ab jetzt mühst du dich nur noch, wenn du
es willst. Und schon hast du Arbeit ohne Ende. Du bist glücklich dran,
denn du weißt, was du mußt. Bis Weihnachten hast du einiges
klar gezogen, hast das Nötige entschieden, hast dich dem Wissen gestellt,
die bedrohliche Beziehung gekündigt. Du traust dir viel zu. Du wirst
mehr du im Advent.