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Kolumne 4. Oktober 2003 - <br>Erntedank - und was stellst du an den Altar?

Traugott Giesen Kolumne 07.06.2003 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Erntedank - und was stellst du an den Altar?

Wenn es Kirche nicht gäbe, müsste sie erfunden werden. Ja, sie muss neu erfunden werden, muss jedenfalls gefunden werden, muss von dir wieder aufgesucht werden; schon des Dankes wegen. Gott ist doch die letzte Adresse für Dank und Klage. Und Kirche ist der gute Ort, um mich zu erleben in der Rolle, die schön macht, nämlich graziös, zu deutsch: dankbar. Kirche, Hauptsache offen und mit einer brennenden Kerze, und mindestens ein Mensch ist auch noch da, mit sich beschäftigt, aber eben nicht verschlossen, sondern offen für weiten Horizont, für Zukunft; dem Himmel und der Liebe zugewandt.

In diesen Tagen schmücken Menschen den Altar ihrer Kirche. Geh doch mal morgen in eine rein, oder geh einige wie Stationen ab. Und fühle hin, ob sie dich ansprechen. Vielleicht stellst du zu den andern Früchten deinen Dank, legst ein Zeichen von dir hinzu.

Erntedank war früher ja das festlichste Fest überhaupt: Da beging (was für ein Wort!) man bewusst das Darbringen der Gaben, brachte Korn und Butter, Wolle und Würste, Trauben, Kartoffeln, Obst in allen Sorten. Und Brot und Wein, stellvertretend für alle Schöpfungsgüte. Wie sagte es Martin Luther in etwa: "Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat, samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen und Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält. Dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken; Familie und Freunde, viele Güter, hat mich mit allem Nötigen für Leib und Leben reichlich und täglich versorgt, in Gefahren beschirmt... " - und noch viel Wunderbares weiter.

Immer stellten Menschen Stücke ihrer Ernte an den Altar, brachten dem Höchsten dar von der Beute des Jahres, auch Werkstücke und Computer. Oberflächlich gesehen, ist uns wohl die Gottheit abhanden gekommen. Aber es hat uns noch das Wissen, dass wir gewollt und geliebt und gebraucht sind vom Lebensgrund auf. Vieles läuft bewusstlos einfach so ab. Doch wenn Bewahrung oder Schrecken uns auf die Höhe unseres Bewusstseins bringen, dann strömt Dank oder Klage aus uns. Nach einer Vollbremsung kracht es und wir fragen "warum bloß?" oder es kracht nicht, und wir fallen innerlich auf die Knie. Wir sind unheilbar religiös, wir brauchen Gott. Das macht uns zu Menschen und nicht zu Monstern, macht uns nicht monströs, sondern menschlich: So wissen wir noch von Schuld und Verantwortung, und dass letzten Endes alles Gnade ist, Geschenk, Wunder, jeder Atemzug eine Berufung.

Was legst du von dir an den Altar, was ist dein Erntedank? Legst du eine Rose hin für alles Lieben und Geliebtsein, das dir geschah und durch dich? Oder deinen Rollstuhl, in Gedanken, weil dieser kleine Flitzer dir Freiheit beschafft. Oder die ADAC-Karte, die soviel institutionelle Hilfe bringt, oder ein gemaltes Bild der Enkel vom letzten Urlaubsspaß; oder eine Zeitung, für alle Medien mit. Ich lege jedenfalls einen Schein für "Brot für die Welt" hin, und weiß schon, er müsste größer sein.


 




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