Traugott Giesen Kolumne 15.08.1998 aus Hamburger Morgenpost
Mensch im Müll
Der Menschheit ganzer Jammer packt uns an: In einem Müllsack der
Leichnam eines Mädchens, einer jungen Frau, zur Seite geschafft, weggetan,
einfach. Menschen haben sich eines Menschen entledigt, als der ihnen nur
noch Material schien.
Und sie hatte gelacht, geliebt, gehofft. Sie hat gelernt, gespielt,
geträumt, sie hat sich gesehnt und geängstet. Sie hat gebetet
und geweint. Dann hat sie sich mit Drogen ausgekernt, sich enticht und
verloren. Sie hat sich selbst schon aufgegeben. Und keiner konnte sie aufgefangen.
Sie wußte nicht mehr, wer sie ist und wofür sie den nächsten
Tag noch haben wollte.
Ein Mädchen im Müllsack, weggeworfen. � Das ist entsetzlich.
Das darf nicht sein. Das ist Sünde. Das ist ein Grund, warum wir alle
ein Stück Haß auf uns selbst fühlen, ein Stich ins Gewissen,
wie wenn wir ein ausgemergeltes Kind vor Hunger wimmern sehen. Es darf
uns nicht kalt lassen. Das wissen wir. Wenn das uns kalt läßt,
was könnte Gott, wenn er ist, noch mit uns zu tun haben wollen? Höllen
müßten uns doch eingeheizt werden, wenn das uns nicht durch
Mark und Bein geht.
Jedes Leben ist doch voll Heiligkeit. So viel Staunen, Wachsen, Werden.
Und so viel Gefährdung und Bewahrung. Tatsächlich sind wir nur
eine Handbreit über dem Abgrund gehalten. Geh auf die Knie vor Dank,
wenn du ohne Suff und Drogen kannst. Das junge Mädchen hat sich verlaufen.
Und sie traf Verlocker, Verführer, Vergewaltiger. Böses entsteht,
wo die Liebe nicht hinreicht (H. Hesse). Bist du noch geliebt, liebst du
noch? Hast du noch Spielraum, ja und nein zu sagen? Dann bist du glücklich
dran.
Auch wenn du meinst, nicht mehr ohne den Stoff leben zu können,
hast du noch unter aller Asche etwas Glut, hast noch Sehnsucht nach dem
besseren Sein. Hast noch einen Schimmer lichtes Wissen: Das Herz aller
Dinge will dich. Du bist noch wichtig hier. Du hast kein Recht, dich wegzuschmeißen,
du gehörst doch mit zum Kräftehaushalt der Liebe. Du hast doch
deinen Part noch gar nicht gespielt, Kind Gottes, wie kannst du abbrechen,
du dich verneinen? Du bist einzigartig, reite dich nicht in den Dreck.
Such nicht das Eklige. Stink nicht. Kotz dich nicht an. Du bist ein wunderbarer
Mensch, wirf deine Perlen nicht vor die Säue. Du weißt noch,
wie ein Bad und ein sauberes Bett Freude macht. Und du kennst einen Menschen,
dem du vertraust. Und laß dir noch mal helfen von der Beratung. Es
ist unwahrscheinlich gut, wie sie dir wieder noch einmal die Chance geben.
Du hast noch nicht an viele Türen geklopft. Schrei um Hilfe. Sei noch
gespannt auf das Abenteuer, mehr Du zu werden. Du bist nicht fertig.
*Eben erschienen: Giesen, �Festes Herz, weiter Horizont� � Die guten
Gebote; Radius-Verlag, ISBN 3-87173-146-3; 245 S., 38,00 DM *