Kolumne 11. Dezember 2006
Traugott Giesen Kolumne 09.12.2006 aus "Die Welt" Ausgabe
Hamburg
Advent braucht doch jeder
Dass etwas anfängt, ist wichtig. Genug endet, vergeht, ist vorbei. Genug
auch währt, bleibt, steht, beharrt. Wir kommen her von langer Hand und
leben jetzt. Aber wenn Jetzt nicht auf Neues zugeht, ist das, als liefen
wir aus, sind Auslaufmodelle eben, ohne Kinder, ohne neue Tage voll unausdenkbar
neuer Möglichkeiten. Darum ist Advent sensationell: Vor uns Nennenswertes,
Frieden wird eröffnet, Himmel bricht an, Liebe erfindet uns neu. Vor
uns Auferstehung mitten am Tag, eine große Dynamik ergreift uns - ein
Sog zu neuen Ufern erfasst uns. Sieh Dich an als Energiebündel Gottes.
Mit Dir verwandelt sich die Lage; kommst Du in den Raum, geht einem ein Licht
auf. Keine anderer Mensch verkörpert Aufbruch und "Jetzt geht's los"
mehr als Jesus Christus - Leuchtfeuermensch. Er bläst Dir Heiligen Geist
in Dein Lebensflämmchen, er weckt die tote Christenheit aus dem Schlaf
der Sicherheit. Er ruft zum Kampf für Gerechtigkeit, die Fanfaren der
Menschlichkeit treiben an, Hunger zu stillen und Leid zu lindern. Darum doch
all die festliche Beleuchtung, all die Lockungen doch, zu schenken, letztlich
weil in uns eine Sehnsucht glimmt, dass wir bessere Menschen werden, jetzt.
Auch durch Geschenke machen, Plätzchen backen, die Zimmer schmücken.
Natürlich kann das alles Tand sein, Selbstbeschäftigung, Ablenkung
von den wahren Problemen. Was nützt ein Schmuckstück für die
Gemahlin, wenn man in Gedanken weit weg ist, was sollen Plätzchen, wenn
man allein lässt.
Und doch kann Advent der Anfang von Heilung sein, der Abschied von Narzissmus
und Um-sich-selber-Kreisen. Gleich feiern wir die Geburt des Gotteskindes.
Ungeheuerliches ist damals passiert: Der Schöpfer von allem wird Mensch.
Und erleidet und genießt ein Erdenleben exemplarisch: am Anfang der
Stall, am Ende das Kreuz - damit niemand mehr sage, Gott habe keine Ahnung
von Schicksal und Leben.
Seitdem ist es glaubhaft, dass das Geschehen von Gott mitgelebt wird, ja,
das Geschehen gotteskarätig ist. Und jedes Ereignis, auch das
fürchterliche, noch Werdekraft bei sich hat - jede Tatsache ist eingewebt
in den Teppich der Geschichte. Jetzt sehen wir den Teppich nur von links
mit groben Fäden und Knoten und Schlingen. Aber dann werden wir den
Teppich des Lebens von rechts sehen, und alle Tränen werden abgewaschen
sein, und auch der Tod wird ausgedient haben. Noch ist Angst, Leid, Weh und
Ach. Und die hunderttausend Vorfreuden, die Sonnenfäden des Glücks.
Noch sind wir voll Sehnsucht, dass Ankunft geschehe, Genesung, Versöhnung,
Entschuldung. Noch zünden wir eine Kerze an. Sind einander ein Licht.
Was können wir bewegen, versuchen, zueinanderrücken! Sieh Dich
doch als Türöffner, Friedensstifter, Chancenbesorger, Verknüpfer,
Anstifterin zur Heilung des zerstrittenen Freundeskreises. Der Heiland braucht
heute unsere Hände, unsere Augen, auf dass er immer neu geboren werde.